"Guten Morgen, Hayo", flötet Mama, als sie über die Wäscheberge in meinem Zimmer steigt und sich auf mein Bett setzt, in dem ich gerade aufwache.
Ich gähne herzhaft und lege meine Beine samt Decke auf ihren Schoß. "Morgen", murmele ich verschlafen.
"Hör mal, ich habe mich gefragt, ob ich dich jetzt als meine Tochter bezeichnen kann oder nicht. Dich Kind zu nennen hört sich irgendwie komisch an, finde ich", überlegt sie laut.
Müde reibe ich mir die Augen. Über das Thema habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, aber die deutsche Sprache hat auf das Wort "Kind" keine geschlechtsneutrale Alternative. "Eigentlich nicht", antworte ich schließlich, nachdem ich kurz darüber nachgedacht habe. "Mir wäre es lieber, wenn du mich als dein Kind bezeichnen würdest. Ich bin zwar kein Kind mehr, aber ich bin dein Kind."
Mama verzieht den Mund. "Das klingt so negativ", überlegt sie und fügt hinzu: "Aber ich kann sagen, dass ich eine Tochter bekommen habe."
"Ja. Das hast du ja auch. Nur ist deine Tochter jetzt ein Enby."
"Aber ich kann doch nicht 'mein Enby' sagen. Wärst du Trans, würde ich dich auch nicht als mein 'Trans' bezeichnen."
Ich muss lachen. "Wäre ich Trans, würdest du mich hoffentlich deinen Sohn nennen."
Mama nickt langsam. "Das ist kompliziert", meint sie. Es wirkt nicht so, als hätte sie eine zufriedenstellende Antwort bekommen.
Auf dem Küchentisch liegt ein riesiger Zeitungsartikel mit der Überschrift "Er - Sie - Es", als ich nach unten komme. Mama hat ihn mir empfohlen und ich nehme mir vor, ihn auf der späteren Autofahrt zu lesen.
"Was ist mit 'Inter-Kind'?", überlegt Mama beim Frühstück. Mein Vater ist schon gefahren, bevor ich aufgewacht bin, um seiner Mutter zu helfen.
Charlotte schüttelt ihren Kopf. "Inter heißt doch, dass man zwei Geschlechtsmerkmale hat."
"Ne", meint Mama, "Das steht für Menschen, die zwischen männlich und weiblich stehen."
"Also, ich verstehe unter intersexuell, dass eine Person ein XXY-, XXXY- oder YY-Chromosom hat. Dass jemand mit beiden Geschlechtsmerkmalen auf die Welt kommt", führt Charlotte fort und bestreicht ihr Brötchen mit Marmelade.
"Aber Wiebke/Hayo ist als Mädchen auf die Welt gekommen."
"Offensichtlich."
"Warum kann ich sie dann nicht meine 'Tochter' nennen?"
"Weil das Wort 'Tochter' impliziert, dass ich eine Frau bin", erkläre ich.
"Achso, und das willst du wiederum nicht", überlegt Mama.
"Du hast es erfasst."
Charlotte stutzt. "Sekunde, kann ich dich dann noch als meine Schwester bezeichnen?"
"Nein", fällt mir auf. Seltsam, darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Dass Charlotte meine Schwester ist, war immer klar, daran besteht kein Zweifel. Aber was bin ich für sie?
"Geschwisterkind", schlägt Mama vor. Ein exzellentes Beispiel für die sperrige deutsche Sprache.
"Das Vieh, das die gleichen Eltern wie ich hat", scherzt Charlotte.
"Oder aus der selben Gebärmutter kommt", grinse ich. "Mal eben was anderes", führe ich fort, "Glaubt ihr, es ist eine gute Idee, wenn ich es heute Onkel Richard und so sage?" Einiges spricht dafür. Es ist ein familiärer Rahmen, keine Geburtstagsfeier und Richards Familie ist die einzig anwesende, die es noch nicht weiß.
"Dein Papa hat neulich mit ihm über das Thema gesprochen", meint Mama nachdenklich. "Nicht über dich speziell, aber ich kann dir sagen, dass das nicht einfach wird."
Ich nicke langsam. Über seine Kinder mache ich mir keine Sorgen, die interessiert so etwas wahrscheinlich gar nicht. Aber bei Onkel Richard werde ich mich auf eine längere Diskussion gefasst machen. "Gut, dass du mir das sagst", meine ich. Auf diese Weise bin ich vorbereitet.
Mama zuckt mit den Schultern. "Oma wird das wahrscheinlich ohnehin ausplaudern."
Oma plaudert gar nichts aus. Tatsächlich wird an dem gesamten Nachmittag nahezu gar nicht über das Thema gesprochen. Die ganze Zeit über suche ich nach einem passenden Moment, mein Anliegen auszusprechen. Erst, als wir uns verabschieden, nennt Oma mich ihre Große. "Das ist doch in Ordnung, oder?", fragt sie.
"Ja", lächele ich, stolz, dass sie die ganze Sache gut aufgenommen hat.
"Mein großes Mädchen", lächelt sie und drückt mich sanft an sich.
Amüsiert presse ich die Lippen zusammen. "So halb", meine ich widerwillig. Ich will sie nicht korrigieren müssen, aber ich muss konsequent bleiben.
Oma sieht mich schon wieder mit diesem verwirrten Blick an und ich erkläre verlegen, dass ich kein Mädchen bin. "Ich habe nicht verstanden, was du da erzählt hast", meint sie.
"Ist auch kompliziert", räume ich ein.
Auf der Heimfahrt bin ich allein mit Mama im Auto. Wir haben eine rege Diskussionen über Geschlechter, Gleichberechtigung und Gleichstellung, und überlegen, ob die deutsche Sprache einengend oder befreiend für Menschen wie mich ist. Ihr Argument ist, dass weibliche Formulierungen in Text und Sprache genauso genutzt werden wie männliche, wie zum Beispiel bei "Lehrer/in". Dies ist eine Gleichstellung für Frauen, da dadurch betont wird, dass sie Tätigkeiten genauso gut ausüben können wie Männer.
Ich hingegen wünsche mir eine Formulierung, die alle sozialen Geschlechter umfasst. Dazu möchte ich auch wieder ein Beispiel aus der englischen Sprache nehmen: Hier sind Wörter für Tätigkeiten grundsätzlich neutral. Durch das Wort "teacher" wird nichts hervorgehoben oder zurückgestellt. Dadurch werden auch Enbys eingeschlossen, die bei der deutschen Formulierung eher außenvor bleiben.
Vor gut vier Jahren wollte ich mich für eine Ausbildung zum Konditor bewerben. Den Entwurf meiner Bewerbung habe ich in einem Berufsinformationszentrum durchchecken lassen, sicher ist sicher. Der freundliche Herr hinter dem Schalter überflog das Blatt einmal, bevor er zu mir sagte: "Sie sind doch eine Frau. Also bewerben Sie sich als Konditorin, nicht als Konditor."
In dem Moment war ich erst einmal baff. Was geht es meinen Arbeitsgeber an, ob ich ein Mann oder eine Frau bin? Zwar habe ich mich zu dem Zeitpunkt noch nicht als Enby wahrgenommen, aber diese Aussage stieß mich ziemlich vor den Kopf. Ich fühlte mich auf meinen Körper reduziert und ich merkte ganz deutlich, dass ich das nicht mochte.
Inzwischen wird auf Stellenanzeigen differenziert zwischen männlich, weiblich und divers. Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, war ich überglücklich. dieses kleine "d" bedeutet nämlich, das es einen Platz für mich gibt, und dass ich mich (theoretisch) nicht verstellen muss, um einen Job zu bekommen. Allerdings frage ich mich, wie Unternehmen auf eine Bewerbung reagieren, in der keines der üblichen zwei Geschlechter angegeben ist. Immerhin ist das recht ungewöhnlich, und ich habe die Sorge, dass Enbys schlimmer diskriminiert werden als Frauen. Die Zukunft wird das zeigen.
Schlussendlich denke ich, dass Bewerbungen grundsätzlich ohne Geschlecht eingereicht werden sollten. Das würde für eine Chancengleichheit sorgen, nicht nur für Enbys, sondern auch für Frauen und irgendwie auch für Männer.