Es gibt etwas zu feiern: Meine gesamte Familie väterlicherseits kennt meinen Namen und was dahintersteckt.
Und das kommt so. Charlotte, Papa und ich fahren zu der Geburtstagsfeier meines Großonkels Paul. (Mama und Iris können leider nicht dabei sein, weil sie einen anderen Termin wahrnehmen müssen.) Abgesehen von uns sind auch noch Onkel Richard, seine Frau Patricia, ihre zwei kleinen Kinder und meine Großeltern eingeladen. Kurz nach unserer Ankunft gibt es schon Kaffee und Kuchen. Pauls Frau Karin hat einen wundervollen Käsekuchen gebacken, von dem ich ein Stück nahezu verschlinge. Er ist cremig und fest, aber nicht zu trocken. Normalerweise mag ich keinen Käsekuchen, aber der hier ist ein wahrer Genuss.
Während der Gespräche am Tisch spüre ich eine deutliche Verschiebung zwischen dem, was ich bin und dem, was meine Familie in mir sieht. Das drückt sich auch in meinem Verhalten aus: Ich bin nervig, fies und aufmüpfig, sehr zum Leidwesen meiner Schwester. Nicht einmal ich kann mich in dieser Form ausstehen.
Nachdem der Tisch aufgeräumt ist, wird ein Spaziergang gemacht, auf dem ich dieses Mal mitkomme. In meinem Verhalten fühle ich mich noch immer furchtbar, doch ich kann einfach nicht aufhören. Normalerweise hilft es mir, das auszusprechen, also gehe ich neben Charlotte her und rede mit ihr.
"Guck mal, das ist doch jetzt die Gelegenheit, dich zu outen!", meint sie. "So gut wie alle sind hier unterwegs, es herrscht eine gedämpfte Stimmung, und so ziemlich alle wollen sich unterhalten. Jetzt hast du die Ruhe, es allen zu erklären."
Sie hat Recht, dieser Spaziergang ist fast schon wie geschaffen für mein Anliegen. "Ich weiß nicht", sage ich trotzdem, "es ist immerhin Onkel Pauls Geburtstag. Das ist genau dasselbe wie bei Onkel Richard damals. Vielleicht ziehe ich zu viel Aufmerksamkeit auf mich, wenn ich das jetzt mache, und das wäre unangemessen."
Charlotte knufft mich in die Seite. "Du bist auch blöd", schimpft sie freundlich, "du gibst weder dir noch ihnen eine Chance, etwas richtig zu machen, wenn du dir jetzt keinen Ruck gibst."
Verlegen starre ich auf den Boden. Der Stein unter meinen Füßen ist in verschiedensten Facetten von Grau gespickt, wandelt sich jedoch mit jedem Meter ein wenig mehr in Erde um. "Ich kriege das nicht alleine hin", meine ich schließlich leise. "Ich brauche deine Hilfe, glaube ich." Damit meine ich nicht, dass Charlotte mir unbedingt mit Worten aushelfen muss. Vielmehr brauche ich ihre Anwesenheit, das Wissen, dass sie hinter mir steht und mich notfalls auffangen kann, wie sie es schon so oft getan hat.
Sie nickt nur. "Dann komme ich mit. Das ist kein Problem, aber reden musst schon du."
Gemeinsam laufen wir also neben unserer Großcousine Laura, mit der wir uns kurz unterhalten. Die ganze Zeit gibt Charlotte mir auf subtile Weise zu verstehen, dass ich sprechen soll. Ich weiß, dass sie Recht hat, trotzdem suche ich die gesamte Zeit nach Ausreden, warum ich noch nichts sagen sollte: Laura spielt mit den Kindern, Laura ist gerade mit ihrem Handy beschäftigt, Laura spricht mit jemand anderem. Tadelnd sieht Charlotte mich an und ich verstehe ohne Worte, dass ich das nicht ewig vor mir herschieben kann.
Als wir also an einem Spielplatz anhalten, damit die Kinder Fußball spielen können, stelle ich mich zu Onkel Richard und Patricia. Mein Opa und Onkel Paul sind schon weitergegangen, aber das ist auch gut so. Auf diese Weise habe ich später mehr Ruhe für ihn.
"Wir müssen mal quatschen", sage ich mit allem Selbstbewusstsein, das ich aufbringen kann, während ich von einem Fuß auf den anderen trete. Ich schiebe es auf die Kälte. Mit dem Blick fest auf Onkel Midas gerichtet frage ich: "Weißt du, was ein Outing ist?"
"Ein Outing", wiederholt er etwas lauter und murmelt das Wort nachdenklich vor sich hin.
"Ein coming out meinst du?", schreitet ihm Patricia zur Hilfe und auch ich bin dankbar dafür. Irgendwie hatte ich diesen Terminus total vergessen.
"Ja", antworte ich. "Ich muss mich mal outen."
"Als was denn?", fragt Onkel Richard und zieht konzentriert die Brauen zusammen.
Einmal hole ich tief Luft, bevor ich es ausspreche. "Ich heiße Hayo und bin Nonbinary." Wieder einmal flutschen die Worte etwas zu schnell aus meinem Mund und ich blicke in zwei verwirrte Gesichter. Dreimal muss ich das Wort "Nonbinary" wiederholen, damit sie es rein akustisch verstehen, und natürlich muss ich erklären, was es bedeutet. Dazu kommt die Sache mit meinem Namen.
"Also, für mich bist du immer noch Wiebke", brummt Onkel Richard und sowohl Charlotte als auch ich müssen lachen, weil mein Papa (Richards Bruder) vor zwei Monaten genau dasselbe gesagt hat.
"Das ist auch okay", antworte ich. "Den Namen 'Wiebke' mag ich ja auch. Nur fühle ich mich wesentlich wohler, wenn ich 'Hayo' genannt werde."
"Aber das ist doch ein Jungenname", wirft Patricia ein. "Ich hätte jetzt eher gedacht, dass du einen Namen, nimmst, den beide Geschlechter benutzen können, so etwas wie 'Kim', 'Sam' oder 'Alex'."
"Das habe ich auch überlegt", erkläre ich. "Allerdings habe ich bei diesen Namen nicht das Gefühl, dass sie zu mir passen, so schön sie auch klingen. Hayo hingegen ist ja auch ein Name, den meine Eltern irgendwann einmal für ihr Kind ausgesucht haben, und ich mag den Klang und die Bedeutung. Für mich ist das mehr als bloß irgendein Wort, mit dem ich gerufen werde."
"Wie sieht es denn mit Beziehungen für dich aus?", fragt Onkel Richard.
Ich zucke mit den Schultern. Seltsam, dass das alle fragen. "Genauso wie vorher", antworte ich. "Meine Geschlechtsidentität hat nichts damit zu tun, auf welche Menschen ich stehe. Abgesehen davon ist es mir völlig egal, was mein Partner zwischen den Beinen hat, solange der Charakter in Ordnung ist."
Onkel Richard nickt bedächtig. "Und woran merkst du, dass du ... Nonbinary (?) bist?"
Ich versuche, meine Innenwelt für Onkel Richard und Patricia sichtbar zu machen. Dass ich es nicht mag, wie eine Frau behandelt zu werden, und die Sache mit der Bodydysphoria. Ich denke, dass dieser Teil immer am schwierigsten zu erklären und zu verstehen ist.
"Was für Konsequenzen hat das jetzt für dich?" Das ist im Endeffekt die wichtigste Frage, die in diesem Gespräch gestellt wird, denn die Antwort darauf ist der Grund, weshalb ich mich überhaupt oute: Der Umgang.
"Einmal, dass ich es bevorzuge, Hayo genannt zu werden. Und dann, dass ich nicht als Frau bezeichnet werden möchte."
Als wir weitergehen, nickt Charlotte mir grinsend zu. "Das lief doch gut", meint sie.
"Ja", stimme ich ihr zu und schiele zu Onkel Paul. Mit ihm möchte ich als nächstes sprechen.
Charlotte und ich flankieren ihn also und während ich auf dem Wegesrand balanciere sage ich wieder dasselbe wie zu Onkel Richard und Patricia. "Ich muss mich einmal bei dir outen. Ich bin nonbinary."
"Aha", sagt Onkel Paul mit einem amüsierten Ton. "Was heißt das?"
"Das heißt, dass ich mich weder als Mann noch als Frau identifiziere."
Onkel Paul gibt ein heiseres Lachen von sich. "Hast du dir jetzt einen Schniedel wachsen lassen, oder was?"
Obwohl ich diese Frage über alle Maßen dreist finde, muss auch ich lachen. "Nein", antworte ich. "Die Identität hat doch nichts mit dem Körper zu tun." Diese Aussage stimmt vielleicht nicht absolut, doch in diesem Kontext ist sie passend.
In diesem Moment wird Onkel Pauls Gesichtsausdruck ernster. "Sekunde, meinst du das ernst? Ist das hier jetzt ein ernsthaftes Gespräch?"
"Ja."
Er bleibt stehen und hält auch mich an der Schulter fest. Mit einer Hand deutet er den anderen unserer Truppe, an uns vorbeizugehen, und auch Charlotte gebe ich mit einem Nicken zu verstehen, dass sie uns ruhig allein lassen kann. Onkel Paul möchte ein wenig Distanz zwischen uns und der Heiterkeit der anderen schaffen, um sich mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Konzentration mit mir auseinandersetzen zu können. "Also nochmal", beginnt er, als wir uns einige Meter hinter den anderen wieder in Bewegung setzen. "Du identifizierst dich als ... ?"
"Nonbinary."
"Und das heißt ...?"
"Das heißt, dass ich mich mit keiner Geschlechtsidentität identifizieren kann. Ich bin quasi geschlechtslos."
Onkel Paul geht dicht neben mir. Ich spüre seine Anspannung und den Wunsch zu verstehen, was ich ihm mitteilen möchte. Interessanterweise stellt er nahezu dieselben Fragen wie Onkel Richard und Patricia zuvor. Den gesamten Rückweg über sprechen wir miteinander, und kurz bevor wir bei ihm zu Hause ankommen, sagt er: "Wenn du mich fragst, was ich mir für dich wünsche, habe ich eigentlich nur zwei Sachen. Einmal wünsche ich mir, dass du einen netten Mann kennen lernst und irgendwann mit ihm zwei Kinder in die Welt setzt. Dass du einen guten Job hast und dir deine Welt aufbaust, wie es deine Eltern getan haben." Das klassische Familienmodell also. "Mein zweiter Wunsch, und der ist eigentlich viel wichtiger, ist der, dass du zufrieden mit dir leben kannst. Und wenn dazu gehört, dass du nonbinär bist, dann ist das völlig in Ordnung. Ich werde versuchen, dich darin zu unterstützen, auch wenn mir das aus Gewohnheit vielleicht nicht direkt gelingen wird. Aber das tue ich nicht, weil ich das irgendwie schlimm finde."
Vor der Haustür bleiben wir stehen und Onkel Paul umarmt mich fest. Ich denke, dass er ein wenig überfordert ist von meinem Geständnis. Man hört schließlich immer von Lesben, Transpersonen, Schwulen, und so weiter und so fort, denkt sich, dass das ganze ein wenig bekloppt ist, aber akzeptiert es soweit, weil sie niemandem weh tun. Immerhin ist man selbst nicht betroffen, und dann komme ich daher und sage, ich bin einer dieser Bekloppten. Die ganze Thematik rückt dadurch näher, und vielleicht zum ersten Mal muss man sich auf einer persönlichen Ebene damit auseinandersetzen. Dass man sich schwer damit tut ist nichts außergewöhnliches oder schlimmes. An dieser Stelle möchte ich gerne aus der Netflix-Serie "one day at a time" (Staffel 1, Folge 11) zitieren: "Plötzlich siehst du deine Tochter in einem ganz anderen Licht. [...] Dein Herz findet es gut. Du brauchst nur Zeit, damit dein Kopf hinterher kommt."