Genervt presse ich die Lippen zusammen, als ich in den Kalender starre. Die Osterferien stehen an, und natürlich bin ich in einer der zwei Wochen auf Seminartagen. Blöderweise fällt meine andere Seminarwoche in die Woche davor - Was bedeutet, dass ich mit einer kurzen Pause von vierundzwanzig Stunden für vierzehn Tage nicht zu Hause bin. Einerseits freue ich mich sehr auf die Inhalte, denn es gefällt mir, mich mehrere Tage lang intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Andererseits sind es zwei Wochen mental anstrengende Arbeit, in deren Pausen ich gerade mal genug Zeit zum Essen und zum Schlafen haben werde.
Aber gut. Eine richtige Wahl habe ich ohnehin nicht, und dass ich mit einigen Freunden da sein werde, mildert meine Sorgen ein wenig ab. Am Sonntag Morgen sitze ich also mit meinem Vater im Auto und begebe mich auf den Weg in die Jugendbildungsstätte, die sich die Diakonie für diese Woche ausgesucht hat. Die Familienfeier fand erst gestern statt; Ich bin unausgeschlafen, gestresst, und Onkel Richards Worte ziehen noch immer ihre Bahnen zwischen meinen Hirnplatten.
"Du kannst ihm nicht vorwerfen, dass er uneinsichtig ist", meint Papa dazu. "Bei ihm muss ein Umdenken stattfinden. Ich meine, ich bin selbst noch nicht ganz dahinter gestiegen, was genau du jetzt willst."
"Aber du bemühst dich wenigstens", fahre ich ihn lauter an, als ich will. "Du nennst mich Hayo. Gestern hast du mich einer mir fremden Person mit diesem Namen und als dein Kind vorgestellt, das rechne ich dir hoch an! Weißt du, wie froh mich das gemacht hat, mich nicht erst erklären zu müssen?"
Er brummt leise. "Und Richard tut das nicht?"
"Nein", murre ich. "Klar muss er sich umgewöhnen, und ich sage nicht einmal, dass das leicht ist. Aber er versucht es nicht einmal, und das verletzt mich. Er nennt mich noch immer bei meinem Geburtsnamen, obwohl ich ihm sage, dass ich das nicht will. Er nennt mich seine Nichte, eine junge Dame, eine Frau, die möglichst noch heterosexuell ist, aber das ist ein anderes Thema. Ich sage es noch einmal: Du hast mich gestern mit meinem Wahlnamen vorgestellt. Und du sprichst mich damit an oder willst dich zumindest daran gewöhnen."
Eine Weile lang herrscht Schweigen zwischen uns. Ich starre aus dem Autofenster, betrachte die vorbeifliegenden Bäume und Felder. Eigentlich habe ich keine Lust, darüber zu sprechen, ich bin zu erschöpft, aber verschieben will ich dieses Gespräch auch nicht. "Onkel Paul versteht es auch nicht", meine ich nach einer Weile, "Aber er versucht es. Wir haben gestern lange darüber gesprochen, und während er mich am Anfang mit 'Junge Dame' begrüßt hat, hat er sich bei der Verabschiedung dazu entschlossen, 'Junger Mensch' zu sagen. Er saß gestern eine gute halbe Stunde mit mir zusammen mit der Intention, zu verstehen."
Den Rest der Fahrt schweigen wir. Ich bin müde und habe wirklich keine Lust auf die kommende Woche, in der ich sämtliche Menschen aus dem Startseminar letztes Jahr treffen werde, bei denen ich mich noch immer nicht geoutet habe. Und ich fürchte, dass mir auch einfach die Energie dazu fehlt.
Diese Gedanken legen sich, als ich mit meinem Koffer die Anhöhe hinaufgehe, wo bereits winkend meine Freunde auf mich warten. Sie sind genauso ausgelaugt wie ich, aber es ist angenehmer, sich in einer Gruppe zu beschweren. Gemeinsam gehen wir also ins Haus und beziehen nach einigem organisatorischen Kram unsere Zimmer.
Bei der Anmeldung wird mir mal wieder bewusst, dass ich nicht offiziell Hayo heiße, also gehe ich in der ersten Pause zu der Leiterin um ihr meinen Wunsch vorzutragen. Nach zwei Minuten ist alles geklärt: Der Name Wiebke steht lediglich auf dem Papier, und ich werde fortan und ohne weitere Verwirrungen Hayo gerufen.
Natürlich gibt es auch noch die Leute aus dem Startseminar, die mich noch bei meinem alten Namen rufen. Doch auch ihnen kann ich im Laufe der Woche allmählich meine Veränderung erklären. Einer von ihnen macht sich einen Spaß daraus, mich mit 'Mayo' anzusprechen, was ich persönlich mehr als bloß amüsant finde. Ich meine, ich habe zum ersten Mal im Leben Spitznamen!
Das Seminar ist allgemein für unsere politische Bildung gedacht, wobei sich jeder noch ein Unterthema aussuchen kann. Diese reichen von "Arm und reich in Deutschland" über "Rassismus" bis hin zu "globaler Ungerechtigkeit". Ich habe mich für die Arbeitsgruppe zum Thema Inklusion entschieden, wobei ich gerade das Wort 'Diversität' ansprechend fand. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Inklusion beschreibt nicht bloß die Integration von Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Inklusion geht davon aus, dass alle Menschen von Anfang an gleichwertig sind und verlangt, dass alle dieselben Chancen bekommen. Das bedeutet zum Beispiel, dass es gute Alternativen zu Treppen gibt, damit Rollstuhlfahrer_innen alles gut erreichen können, dass ein blinder Programmierer einen speziellen Computer zur Verfügung gestellt bekommt, oder auch einfach, dass eine Frau dasselbe Gehalt bekommt wie ein Mann. Wenn man einmal darauf achtet, findet man Diskriminierung an jeder Ecke. Gleichgeschlechtlich liebende Paare werden auf der Straße seltsam angeguckt, wenn nicht sogar beschimpft, Trans-Personen werden heftigst in Frage gestellt, bisexuellen Menschen wird gesagt, sie müssten sich entscheiden. Von Repräsentationen einiger Minderheiten in Filmen, Serien und Werbemagazinen will ich gar nicht erst anfangen. Damit beschäftige ich mich eine Woche lang und ich merke, dass Inklusion genau das ist, was ich verlange, wenn ich von Verständnis spreche.
Das ganze resultiert in einige interessante Gespräche. Zum Beispiel bin ich ganz eindeutig für Unisex-Toiletten. Jedoch bekomme ich mit, dass eine andere junge Frau in meiner Gruppe so etwas ganz furchtbar findet. Ihren Punkt habe ich nicht ganz verstanden und teilweise habe ich die Sorge, ihr zu sehr meine Ansicht aufdrängen zu wollen, doch bei ihr geht es um dasselbe wie bei mir: Die Sanitäranlagen mit einem guten Gefühl nutzen zu können.
Zudem spreche ich mehrmals mein Dilemma in der Schule an. Die Gruppe, in der ich arbeite, meint, ich sollte es bis zum Ende des Schuljahres noch als Frau aushalten. Anne wiederholt, dass ich auf mein Bauchgefühl hören soll. Einen wirklich nützlichen Rat erhalte ich von einem der Seminarleiter, der in seiner Arbeit verschiedene Schulen und Kindergärten besucht, um mit den Schülern Geschlechterklischees aufzubrechen.
"Ich nutze dabei immer gerne leichter verständliche Metaphern", erklärt er. "Zum Beispiel frage ich, was die Kinder für Musik hören. Der eine mag gerne Deutsch-Rap, der andere lieber Metal, einige sind offen für alles und ein paar hören gar keine Musik. Jeder dieser Vorlieben ist wertvoll und tolerierbar. Wenn sie das erst einmal begriffen haben, kannst du den nächsten Schritt versuchen, in dem du das ganze auf Geschlechter überträgst. Sie werden es immer noch Zeit brauchen, um es zu verstehen, aber der Zugang ist leichter." Er nimmt einen Schluck von seinem Bier, bevor er fortfährt. "Was ich auch immer mache, ist sämtliche Klischees mit den Kindern zu sammeln. Zum Beispiel, dass Frauen immer kochen. Danach überlegen wir, wo diese Bilder im Kopf herkommen. Und dann gucke ich, ob das auch stimmt. Vielleicht kennen die Kinder ja auch Männer, die kochen? Dadurch werden sämtliche Stereotypen aufgebrochen. Natürlich sind das alles bloß Anregungen, nicht bei allen werden alle Vorurteile ausradiert sein. Das erfordert wesentlich mehr Zeit und Arbeit. Aber es ist immerhin ein Denkanstoß. Allgemein hilft es immer, nachzufragen und Kommentaren auf den Grund zu gehen."
Inklusion bedeutet Arbeit, besonders das lerne ich in dieser Woche. Aber sie lohnt sich in jedem Fall, denn nahezu jeder gehört mindestens einer Randgruppe an, die benachteiligt wird.