Ich habe etwas, was ich meine "Weiblichkeits-Kompetenz" nenne. Das ist ein Grad oder eine Menge oder eine Zeitspanne, in der ich mich meinem biologischen Geschlecht entsprechend benehme. Am liebsten wäre es mir, wenn ich das nicht brauchen würde, aber das ist zumindest momentan noch Wunschdenken.
Warum?
Ich arbeite momentan an einer Förderschule für Jugendliche, die besondere Hilfe in ihrer Entwicklung brauchen. Das ist eigentlich der ganze Grund und diese Schule ist auch der Ort, an dem ich meine Weiblichkeit toleriere. Natürlich könnte ich mich auch in der Schule outen, in der Theorie funktioniert alles. Doch praktisch gesehen gibt es einige Dinge zu beachten: Die Schule ist nicht meins. Damit meine ich, dass es dort, ähnlich wie bei Geburtstagen, nicht um mich geht. Zweitens ist dieses ganze biologische-soziale-Geschlecht-Ding verwirrend für Jugendliche, die mühsam versuchen, eine traumatische Vergangenheit zu kompensieren. Ich würde sie überfordern, und zwar nicht in einem Sinne, der förderlich für sie wäre. Es geht auf dieser Schule absolut nicht um mich, sondern darum, den Jungs eine sichere Umgebung zu bieten. Einen fruchtbaren Boden zu schaffen, aus dem sie herauswachsen und aufblühen können. Wenn ich dafür ein paar Stunden am Tag eine Frau spielen muss, mache ich das.
Für mich bedeutet das in erster Linie, dass ich BHs trage anstatt mir die Brust abzubinden. An den meisten Tagen macht mir das nichts aus, doch manchmal sehe ich an mir selbst hinunter und finde diese zwei Hügel sehr störend. An solchen Tagen ziehe ich meistens einen Sport-BH und ein weites Shirt an. Außerdem muss ich es runterschlucken, wenn man spaßeshalber "typisch Frau" oder "Das ist ein Mädchenspiel" oder sonstigen Mist zu mir sagt. Natürlich ist es verletzend und tief in mir drin schreit etwas auf, aber ich halte mich zurück und stecke diese wütende Energie in Texte wie diesen hier. Das absurde an diesen Worten ist, dass ich ganz anders darauf reagieren würde, wenn man mir "typisch Enby" an den Kopf werfen würde. Ich würde stolz die Brust hervorrecken, grinsen und etwas sagen wie: "Du hast es erfasst. Problem?"
Und dennoch muss ich breit grinsen, wenn mir meine Mutter eine Nachricht schreibt, in der sie mich mit "Hayo" anspricht. Erst ein verhaltenes Zucken auf den Lippen -es ist immerhin nur ein Name-, dann ein Schmunzeln, welches zu einem großen Lächeln ausufert. Es beflügelt mich.
Genauso ist es auch zu Hause. Im realen Leben. Ich weiß nicht mehr, in welchem Kontext genau, aber Charlotte meint einmal aufgebracht zu Mama: "Übrigens, kannst du Hayo mal sagen, dass sie sich melden soll, wenn ich nach Hause komme? Das hat sie heute schon zwei Mal nicht gemacht!" Ich werde rot und noch während ich mich schelmisch verteidige, spüre ich das Gewicht des Namens. Hayo.
Ein wahrer Höhepunkt des Tages ist es aber, als Papa mit Mama telefoniert und meinen Namen in das Telefon spricht. Ich, die ich gerade auf dem Sofa sitze und zu schreiben versuche, verharre in meinen Gedanken und Bewegungen. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll, ob ich etwas sagen soll, was ich überhaupt tun soll. Mein Papa hat mich gerade Hayo genannt! Er, der vor zwei Wochen noch darauf bestand, dass ich immer Wiebke für ihn heißen werde! Ich könnte schreien vor Glück.
Drei oder vier mal werde ich an diesem Nachmittag mit Hayo angesprochen und jedes mal füllt der Name den Raum so groß und prächtig, wie ein Name nur sein kann. Ich sitze nur auch der Couch und versuche, dieses Gefühl einzuordnen, unfähig, wirklich darauf zu reagieren. Nur zu Charlotte meine ich nach einer Weile: "Sorry, dass ich so aufgedreht bin. Es macht mich nur total glücklich, wenn ihr mich Hayo nennt!"
"Das merke ich", schmunzelt sie mich an.