Momentan mache ich ein FSJ, wegen dem ich mehrere Seminare besuchen muss. Heute bin ich auf einem Vorbereitungstag für eine Exkursion mit dem Thema "Kunst und Identität". Einige Menschen, die ich durch das FSJ kennengelernt habe, sind auch da, doch die meisten Gesichter in der doch großen Runde sind mir fremd. Während ich also der Veranstaltungsleiterin die Hand schüttele und mich lächelnd mit Wiebke vorstelle, frage ich mich, ob ich mich nicht doch direkt meinen richtigen Namen verwenden soll. Dafür spricht, dass ich von Anfang an, ohne große Umschweife Hayo genannt werden würde. Doch mir fallen unweigerlich tausende schwerwiegende Gründe ein, warum ich es nicht tun sollte: Die Leute, die ich schon vorher kenne, wissen das nicht, es ist ungewohnt, vielleicht kommen viele Fragen auf mich zu, auf allen Dokumenten steht Wiebke, das hier ist ein offizieller Rahmen, in dem eine gewisse Professionalität gefragt ist, bla, bla, bla.
Während ich auf meinem Stuhl sitzend darauf warte, dass das Seminar beginnt, erinnere ich mich an das, was ich will. An das, was mich glücklich macht, und wie ich mich fühlen werde, wenn mich heute wieder alle bei meinem Geburtsnamen nennen. Wenn ich wieder eine Chance verpasse, mich richtig vorzustellen, bei Menschen, die mich noch nicht kennen. Im Kern will ich Hayo heißen. Immer und überall, ungeachtet der Dokumente. Also entschließe ich mich dazu, das heute zu tun.
Nachdem sich die Referenten vorgestellt haben, sollen auch wir uns reihum mit Namen, Alter und Exkursionsziel vorstellen. Eine junge Frau mir gegenüber beginnt. Während ich also meine Kette so fest umklammere, dass meine Knöchel weiß werden und die Worte immer wieder im Kopf wiederhole, um auch ja keine Silbe zu vergessen, beobachte ich, wie ich erschreckend schnell an die Reihe komme. Mein Herz wummert inzwischen so laut, dass ich meine eigene Stimme kaum höre, als ich sage: "Hallo, ich heiße Wiebke, würde aber lieber Hayo genannt werden, bin neunzehn Jahre alt und gehe auf die Kunst-Exkursion."
Es ist raus.
Einer der Referenten lehnt sich etwas vor, um mich sehen zu können, und fragt: "Wie möchtest du genannt werden?"
"Hayo", wiederhole ich aufgeregt.
Die Referentin spricht den Namen selbst noch einmal aus, bevor sie sich wieder normal hinsetzt und die Person neben mir weitermacht. Irgendwie hatte ich gehofft, dass mir nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich will nicht mehr hervorgehoben werden als unbedingt nötig. Vielleicht hat sie mich auch nur nicht richtig verstanden.
Gleichzeitig wage ich es nicht, nach rechts zu sehen, wo meine Freunde sitzen. Nur einer von ihnen habe ich erzählt, was ich empfinde, und selbst da habe ich meinen Namen nicht über die Lippen gebracht. Doch sie reagieren im Laufe des Tages sehr entspannt, nennen mich bei meinem Namen, und eine von ihnen korrigiert meinen Namen in ihrem Handy.
Im ersten Teil des Tages werden ein paar Kennlernspiele durchgeführt. Das erste sieht so aus, dass sich jeder bei jedem mit seinem Namen vorstellt, was dazu führt, dass ich fünfundzwanzig mal "Hallo, ich bin Hayo", sage, sodass dieser Satz irgendwann eher wie eine Zauberformel à la Abrakadabra simsalabim klingt. Dennoch setze ich mich mit einem breiten Grinsen wieder hin. Die zweite Runde dieses Spiels ist da schon schwieriger: Dieses Mal geht es darum, sein Gegenüber vorzustellen. Während ich versuche, mich an die ganzen Namen zu erinnern (ich habe ein ganz furchtbares Gedächtnis, was Namen angeht), höre ich fünfundzwanzig mal, wie sich fremde Menschen an meinen Namen erinnern. Das ist wahrer Balsam für meine Ohren.
Beim letzten Kennlernspiel geht es darum, sich mit verschiedenen Menschen über bestimmte Themen zu unterhalten. Dabei kommt sofort eine hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren zu mir und meint, sie wolle unbedingt mit mir sprechen, weil sie mich etwas zu meinem Namen fragen möchte. Ich werde rot. Zwar wollte ich keine besondere Aufmerksamkeit haben, aber sie wirkt interessiert und aufgeschlossen. Das mag ich.
Im Laufe des Seminars wird tatsächlich noch im Identitäts-Kontext über Namen gesprochen. Wir sollen auf einem Blatt Papier notieren, was unser Name bedeutet, wer ihn uns gab, ob wir ihn mögen und ob wir gerne einen anderen hätten. Das Thema ist wie für mich gemacht. Grinsend ziehe ich einen Strich über das Blatt, schreibe in die eine Hälfte "Wiebke" und in die andere "Hayo". Darum herum beantworte ich für jeden Namen die Fragen. Obwohl ich Hayo genannt werden will, fühlt es sich nicht richtig an, meinen Geburtsnamen vollständig zu streichen. Er gehört zu mir, auch wenn er nicht laut ausgesprochen werden soll.
Eine der Referentinnen sagt nachher zu mir, dass sie ab und an auf mein Blatt geschielt hat. Sie wollte wissen, wie ich an die Aufgabe herangehe. Ich nehme das sehr positiv auf, zumal sie mich ebenfalls sehr tolerant annimmt und die ganze mit meinem Namen anspricht. In diesem Kontext fühlt sich der Name nicht ganz so schwergewichtig und besonders an wie zu Hause, aber auch nicht weniger richtig.
Auf dem Heimweg komme ich mir so ohne BH und in dieser unförmigen Jacke herrlich geschlechtslos vor.