"Charlotte, Wiebke-Hayo, Marta, aufstehen! Es ist sieben Uhr!", schallt es von unten, als ich mühsam versuche, mich mit dem neuen Tag anzufreunden. Eigentlich bin ich mürrisch, weil ich einen anstrengenden Traum hatte, aber Papa ruft meinen Namen, und das erheitert mich. Verschlafen ignoriere ich den Fakt, dass ich schon wieder zu spät aufstehe, und mache mich fertig. Noch denke ich nicht daran, dass meine Patentante Iris heute Abend bei uns ist. Sie hat, ähnlich wie ich, eine spirituelle Veranlagung und nicht nur deswegen habe ich das Gefühl, ihr sehr nahe zu stehen. Obwohl Mama regelmäßig mit ihr telefoniert, weiß sie noch nichts von meiner Veränderung. Also steht heute wieder mal ein coming out an.
Am Nachmittag, bevor Mama Iris abholt, setzt sie sich zu mir aufs Bett. "Ich finde es schwierig, dich hier zu Hause 'Hayo' und bei meinen Freundinnen immer noch 'Wiebke' zu nennen", überlegt sie laut.
Ich zucke mit den Schultern und lege das Buch, das ich gerade lese, zur Seite. "Mir ist es eigentlich egal", schmunzele ich. "Klingt vielleicht fies, aber deine Freunde sind mir jetzt nicht so wichtig, dass ich es ihnen selbst sagen muss." Noch während ich diese Worte ausspreche, fällt mir etwas ein: "Allerdings laste ich dir damit eine Art Verantwortung auf, oder?"
"Wie meinst du das?"
"Ich meine, dass du die ganze Sache dann auch erklären musst. Die Fragen, die dabei kommen, muss eigentlich ich beantworten. Alles andere stellt dich in eine unangemessene Position."
Mama nickt verständnisvoll. "Ich kann ihnen ja sagen, dass du jetzt Hayo heißt, und wenn sie Fragen haben, sollen sie zu dir kommen", schlägt sie vor.
Ich nicke grinsend. "Dann koche ich uns einen Tee, bei dem wir darüber sprechen."
So leicht das Gespräch mit Mama auch von statten ging, fällt mir doch auf, wie leichtfertig und beinahe schon faul ich mit der gesamten Thematik umgehe. Auch Sophie sagte mir, dass sie nicht wisse, wie sie mich gegenüber ihren Eltern nennen soll. Auch ihr sagte ich, dass sie ihnen ruhig Bescheid geben kann. Bis heute ist mir nicht klar gewesen, dass ich damit die Schwierigkeiten, die mit einem Outing einhergehen, einfach abgebe. Bei diesem Vorgehen muss nicht ich mich mit etwaiger Verständnislosigkeit herumschlagen, sondern jemand anderes, der vielleicht selbst nicht ganz in der Thematik drin ist. Einerseits möchte ich diese Dinge nicht jemand anderem aufhalsen, andererseits halte ich es für albern, mich auf ernsthafte Weise bei Leuten zu outen, mit denen ich nahezu nichts zu tun habe. Selbst eine beläufige Äußerung erscheint mir nicht richtig, ganz davon zu schweigen, ob sie überhaupt Wirkung hätte.
Am frühen Abend koche ich Tee für mich, meine Eltern, Charlotte und Iris. Zu fünft sitzen wir um den Küchentisch, lachen, halten einen angenehmen Smalltalk und genießen einfach das Zusammensein. Es ist schön, Iris hier zu haben. Wir sehen uns viel zu selten, aber allein ihre Anwesenheit erfüllt den Raum mit einer liebevollen Wärme.
Irgendwann beschließe ich, dass es an der Zeit ist, die magischen Worte auszusprechen. "Iris", sage ich also, sehe sie an und - Ein Haufen wirres Gestammel verlässt meinen Mund. Iris sieht mich verwirrt an, während ich ernsthaft versuche, mich zusammenzureißen. "Warum kriege ich das nie hin?", beschwere ich mich.
"Du versuchst, die Situation aufzulockern", meint Papa. "Beruhig dich und dann sag es noch einmal vernünftig."
Mit heißen Wangen versuche ich es nochmal: "Ich bin Nonbinary und heiße Hayo." Die Worte fliegen viel zu schnell aus meinem Mund, sodass Iris nur noch verwirrter ist.
"Wie bitte?", fragt sie noch einmal.
Die gesamte Situation, besonders aber meine Unfähigkeit, ist mir außerordentlich peinlich. Aber jetzt, nachdem es einmal raus ist, fällt es mir leichter, die nötige Ernsthaftigkeit zu behalten. "Ich identifiziere mich als Nonbinary", sage ich noch einmal ruhig und erkläre auch gleich, was das bedeutet. "Und ich bevorzuge es, Hayo genannt zu werden."
Iris reagiert verständnisvoll und interessiert. "Du bist ein Kind dieser Zeit", meint sie die ganze Zeit. "Das ist ja ein wenig in Mode, Leute wie dich gibt es jetzt immer häufiger.
"Das Wort 'Mode' stört mich. Mode ist vergänglich, jede hat ihre Zeit, taucht nahezu plötzlich auf und geht nahezu bedeutungslos wieder unter. Gewiss gibt es Menschen, die mir in dem Punkt widersprechen, doch für mich bedeutet Mode in erster Linie: Hübsch, vielleicht ein wenig merkwürdig, aber nutzlos. "Leute wie mich gab es schon immer", erkläre ich, "Nur sprechen wir es jetzt auch aus."
"Und wie willst du genannt werden? ...Hayo?", fragt Iris.
"Ja", antworte ich.
"Warum? Ich finde, Wiebke ist ein wunderschöner Name!"
Ich muss lächeln. "Das finde ich auch. Aber er ist eindeutig weiblich, und ich will nicht damit in Verbindung gebracht werden."
"Aber ist Hayo nicht ein männlicher Name?", fragt Iris.
"Ja", gebe ich zu. In gewisser Weise geht auch das gegen die Geschlechtslosigkeit, die ich zu erreichen suche. "In erster Linie ist er aber nicht weiblich. Vielleicht versuche ich, durch diesen Namen einen Ausgleich zu meinem Körper zu schaffen."
"Und woran merkst du, dass du nonbinary bist?", fragt Iris weiter.
Inzwischen habe ich fast schon eine perfekte Formel für diese Frage ausgearbeitet."Ich mag es nicht, wenn man mich als Frau bezeichnet", antworte ich.
"Aber du magst deinen Körper?"
"Ja, im großen und ganzen schon. Also, wenn ich mich im Spiegel sehe, wünsche ich mir schon, dass einige Körperpartien anders aussehen, aber sonst..."
"Das hat aber jeder", wirft Mama ein. Weil das Gespräch zügig weiter geht, sage ich nichts dazu, doch ich frage mich unweigerlich, ob jeder diese Verschiebung zwischen dem Geist und dem Körper spürt, wie ich es tue, wenn ich mich im Spiegel erblicke.
Wir reden noch lange über LGBT+, die Auswirkungen und Reaktionen unserer Gesellschaft und wohin das alles führen könnte. Iris ist überraschend tief in der Thematik drin, und ich freue mich, dass sie mich so schnell und gut akzeptiert.
Am späteren Abend gehen wir zu fünft in ein Restaurant. Wir hatten das ohnehin vor, aber Iris meint außerdem fröhlich, dass wir meine Entscheidung feiern müssen. Niemand bisher hat so etwas gesagt oder vorgeschlagen, und obwohl ich das auch nicht für nötig halte, freue ich mich sehr darüber. Angetrieben von dieser Euphorie frage ich also die Kellnerin, ob es in dieser Lokalität Unisex-Toiletten gibt. "Nein", antwortet sie, "Nur normale, also eine für Männer und eine für Frauen."
Es mag albern sein, doch schlagartig ist meine Laune im Keller. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Restaurant relativ voll ist, vielleicht liegt es daran, dass das Essen nicht besonders gut zubereitet ist, auf jeden Fall wird mir übel und ich bringe kaum einen Happen meiner Tomatensuppe runter. Mein Herz wummert in meiner Brust und ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen, was ich unter anderem auf den Binder schiebe. Ich versuche wirklich alles: atme tief durch, sage für mich selbst einen Zauberspruch auf, der sonst immer funktioniert, versuche mich in die laufende Konversation einzufinden. Doch nichts funktioniert. Letztlich raffe ich mich dazu auf, auf die Toilette zu gehen. Vielleicht liegt irgendetwas in meinem Körper quer, was raus muss. Die Tür mit der Aufschrift "Mamas", was diese ganze Männlein-Weiblein-Geschichte in einen kreativen Kontext ziehen will, ist schwer und ich stolpere eher schlecht als recht hinein. Es ist weiß in diesem Raum, weiß und sauber, doch mir ist auch klar, dass ich mit dem Öffnen dieser Tür wieder bestätigt habe, dass ich eine Frau bin. "Ich bin Hayo", flüstere ich mir selber zu, um mich auf die Tatsache zu besinnen, dass meine Genitalien nichts mit meinem Geschlecht zu tun haben, und begebe mich in eine Kabine.
Als ich wieder am Tisch sitze, schlinge ich die inzwischen lauwarme Suppe fast schon in mich hinein, doch gebessert hat sich meine Laune nicht. Bevor der Nachtisch kommt, gehe ich noch einmal nach draußen an die frische Luft. Es ist kalt und es regnet nicht mehr, aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass ich jeden Moment entweder kotzen muss oder anfange zu weinen. Es geht mir definitiv nicht gut, und ich will nicht zugeben, dass es an einer blöden Toilette liegt.
Als wir zu Hause sind, verabschiedet Iris mich mit "Schlaf schön, Hayo", und für einen kurzen Moment spüre ich wieder ein Flattern in meiner Brust. Fest drücke ich sie an mich, bevor ich in mein Zimmer verschwinde, um diesen anstrengenden Tag endlich zu beenden.