Bisher lief alles recht gut. Es gab keine Rückschläge, die ich nicht verkraften konnte und jeder, dem ich mich bisher geoutet habe, ünterstützt mich nach seinen Möglichkeiten.
Doch heute hasse ich es, die Person zu sein, die ich bin. Heute ist ein Tag, an dem ich noch mehr als sonst Cis sein möchte und an dem ich jeden beneide, der sich mit seinem Geburtsnamen und -Geschlecht zufrieden geben kann.
Heute bin ich bei Hannah und Daniel zu Besuch. Sie sind seit etwa einem Jahr zusammen und ich habe beide sehr gern. Gerade mit Hannah bin ich bereits seit langer Zeit befreundet, nicht nur deswegen ist sie mir inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Ihre Meinung und Teilnahme sind mir wichtig und ich lege Wert auf ihre Unterstützung.
Bereits bei Ellas Geburtstagsfeier vor zwei Wochen habe ich mich Hannah und Daniel gegenüber ausgesprochen. Als ich mich am nächsten Tag noch einmal mit ihnen getroffen habe, nannten sie mich noch immer "Wiebke" und bezeichneten mich als Frau. In Ordnung, dachte ich, wahrscheinlich haben sie diese Information über andere interessierte Menschen, laute Musik und Alkohol hinweg verpasst. Verständlich, also wiederhole ich mich. Den Rest des Tages haben sie mich immer wieder bei meinem alten Namen genannt, und ich dachte mir, die müssen sich noch daran gewöhnen.
Doch auch heute hat sich nichts daran geändert. Hannah begrüßt mich mit "Wiebke", Daniel begrüßt mich mit demselben Namen, und in den nächsten Stunden macht sich keiner die Mühe, das zu korrigieren. Innerlich spanne ich mich jedes Mal an, wenn ich diesen Namen in Verbindung mit mir höre, so fremd ist er mir inzwischen.
Irgendwann verkündet Daniel, dass er eine Kleinigkeit essen möchte, also gehen wir zu dritt in die Küche, wo Hannah versucht, eine gute Gastgeberin zu sein. Ein wenig überfordert bietet sie Daniel verschiedene Speisen an, bis sie mich irgendwann fragt: "Und was möchtest du, Wiebke?"
"Hayo genannt werden", antworte ich salopp. Wieder ein Satz, dessen Aussage ich auch freudlicher hätte übermitteln können, doch in diesem Moment bin ich bereits so genervt, dass die Worte von meinen Lippen platzen, bevor ich irgendeine Möglichkeit bekomme, sie aufzuhalten. Ich spüre keine Reue, viel eher eine subtile Aufregungt.
Von Hannah kommt nur ein "Achso, ja", während Daniel gar nichts sagt. Der hat gerade ohnehin mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Danach werde ich von Hannah noch ein einziges Mal Hayo genannt.
Wie bereits erwähnt, Hannahs Unterstützung ist mir wichtig. Sie ist es, zu der ich Abends spontan fahre, um eine Tasse Tee zu trinken, und sie ist es auch, der ich in ihren schlimmsten Zeiten zur Seite stand. Wir flirten aus Spaß, wir lachen zusammen, wir tauschen uns in offenen Gesprächen aus. Sie ist eine Person, auf die ich mich immer verlassen konnte, die ehrlich mit mir war und die immer all meine seltsamen Launen ausgehalten hat. Warum nicht heute? Warum fällt es ihr heute so viel schwerer als anderen, mich bei meinem Namen zu nennen, obwohl dies hier viel mehr als eine Laune ist? Auch Daniel, den ich noch nicht so lange kenne, halte ich für einen offenen und toleranten Menschen. Und gerade weil wir uns noch nicht lange kennen denke ich, dass es ihm nicht so schwer fallen sollte, mich "Hayo" zu nennen.
Jedes Mal, wenn Psyche mich heute bei meinem alten Namen ruft, ist es wie ein Seitenhieb. Ich weiß zwar, dass mit diesem Wort ich gemeint bin, doch es fühlt sich schon lange nicht mehr so an. Ich bin keine kleine Kämpferin mehr, und ich brauche die Kraft dieses Namens nicht mehr so, wie ich es einst tat. Inzwischen bin ich jemand, der nach seinen eigenen Prinzipien handelt, der treu ist, der deswegen nicht immer das richtige tut.
Ich will, dass Hannah diese Entwicklung anerkennt. Diesen Wunsch hege ich bei jedem, dem ich mich offenbare, doch bei ihr spüre ich das ganz deutlich. Irgendwo kann ich mir vorstellen, dass dieser Schritt auch schwierig für sie ist, weil sie nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Es ist eine neue Situation und vielleicht überfordere ich sie genauso wie meine Großeltern, denen ich meinen Namen nicht einmal gesagt habe.
Dennoch flüstert ein Teil von mir, dass es meine eigene Schuld ist, wenn Daniel, Hannah oder auch andere mich nicht bei meinem Namen nennen. Häufig schaffe ich es nicht, nach "Ich bin Nonbinary" auch zu sagen, dass ich Hayo heiße. Ich bekam es bei meinen Großeltern nicht hin, bei meinen Eltern brauchte ich eine Weile, um das ausdrücken zu können, und auch, wenn ich mich bei einzelnen Personen oute, kriege ich diesen Satz nicht hin. Und ich weiß beim besten Willen nicht, woran es liegt.
Meine Mutter war eine Zeit lang in Afrika, bevor sie meinen Vater kennen lernte. Weil die Menschen dort aufgrund ihrer gewohnten Sprache ihren Rufnamen nicht aussprechen konnten, nutzte sie ihren wesentlich leichteren Zweitnamen. Diese Angewohnheit behielt sie bei, nachdem sie wieder zu Hause war: Sie bat Familie und Freunde, sie mit diesem Namen anzusprechen und stellte sich auch damit vor. Nach einem halben Jahr bemerkte sie jedoch, dass sie ihren alten Rufnamen vermisste, und musste sich die Mühe machen, all das wieder umzustellen.
Ich denke, dass ich irgendwo Angst habe, dass all das, was ich hier veranstalte, doch nur eine Phase ist. Dass ich mich in einem Jahr oder weniger nicht mehr damit wohl fühle. Dass ich alles, was ich nun tue, umsonst mache, und im Endeffekt bloß eines dieser klischeebehafteten Kinder bin, das nach Aufmerksamkeit sucht, indem es auf möglichst individuell tut.
Möglicherweise denke ich auch, dass ich mich zu sehr entfremde. Jedes mal, wenn ich mich oute, spüre ich eine kleine Verschiebung zwischen mir und der Person, der ich es erzähle. Vielleicht gibt es diese Distanzierung tatsächlich, vielleicht bilde ich mir das auch bloß ein. Eigentlich ist es auch egal, denn den zweiten Teil dieser wichtigen Worte bringe ich nie im ersten Anlauf über die Lippen. Immerzu habe ich das Gefühl, mich mit diesem Namen, der unweigerlich zu mir gehört, als vollständig neue Person vorzustellen. Dass, sobald ich jemanden bitte, mich so zu nennen, unsere bisherige Beziehung auf null gesetzt wird. Dass alles, was wir bereits erlebt haben, was wir uns erarbeitet haben, was uns verbindet, null und nichtig gemacht wird.
Ich will nicht, dass die Freundschaft von Hannah und mir durch einen Namen nichtig gemacht wird, doch genauso wenig will ich noch lange Wiebke genannt werden.
Der Tag mit Daniel und Hannah ist trotz meinem Ärgernis mit dem Namen ein kleiner Genuss. Sie behandelten mich nicht wie eine Frau und auch nicht wie einen Mann. Wir kuscheln viel und in einem spielerischen Ton streiten Daniel und ich uns um Hannah, die beschämt nicht ganz weiß, wie sie mit der ganzen Aufmerksamkeit umgehen soll. Ich bin gerne mit den beiden zusammen. Bei ihnen fühle ich mich nicht wie das dritte Rad am Wagen, sondern wie ein erhabener Teil ihrer Beziehung, obgleich ich das nicht bin. Sie schließen mich nicht aus, sondern ein, und für diese Form der Liebe bin ich dankbar. Wenn ich bei ihnen bin, habe ich das Gefühl, den prozentualen Anteil der Geschlechter gleich zu halten. Mann, Frau und Enby.
Typisch Enby ist, es sich zwischen den Stühlen bequem zu machen.