Prompt 83: Mondscheinprinz/ -prinzessin
Der Tag war ihr schon immer zu langweilig gewesen. Im Licht tat jeder so, als wäre er rechtschaffen und vernünftig, weil man es von ihm verlangte. Erst wenn es dunkel wurde, kamen die echten Menschen hervor. Die Schattengestalten, die Gefahr ausstrahlten und dunkler waren als die Nacht selbst.
Tsukiko war schon immer von der Finsternis angezogen worden. Wenn die Nacht sich über die Welt legte und auch die Lügen des Tages verschwanden, brach ihre Zeit an. An Schlaf war da nicht mehr zu denken. Den könnte die junge Frau noch nachholen, wenn das Licht wieder alles in blasse Farben tauchte und niemand mehr der sein konnte, der er eigentlich war.
Für die Nacht hatte sie die Schule abgebrochen. Wer wollte sich schon den Großteil des Tages mit falschen Menschen umgeben, die einen nur belogen und betrogen? Man hatte in der Schule immer so getan, als wäre Tsukiko selbst daran schuld, dass sie nirgendwo reinpasste. Dabei war es eher die Schuld von allen anderen, nicht ihre eigene. Die junge Frau hatte ihre Mitschüler schon immer für ihre Gemeinheiten gehasst. Doch sie hatte sich dem Zwang ergeben, etwas aus sich machen zu müssen. Ab da wurden die Tage zur Qual.
Nur Haru hatte diese halbwegs erträglich gemacht. Er war genauso ein Außenseiter wie Tsukiko gewesen. Bis er sich auch den Lügen ergeben hatte. Ihre jahrelange Freundschaft war nur ein Spiel gewesen. Haru war genauso falsch gewesen wie die, die Tsukiko als Alien und seltsam bezeichnet hatten.
Ohne ihren einzigen Freund, der sie an das Licht gebunden hatte, hatte sie sich in den Schatten verloren. Die Nacht war tröstend, wenn man nichts mehr zu verlieren hatte. Sie war das einzig Wahre, das Tsukiko noch kannte und ihr letzter Halt in diesem Meer aus Lügen.
Die junge Frau zog ihre Jacke etwas fester um sich. Kalter Wind blies ihr ins Gesicht und machte sie taub für die Welt um sie herum. Es war still. Wie in jeder Nacht in dieser verschlafenen Kleinstadt. Das mochte Tsukiko an der Dunkelheit. Sie schluckte das, was das Licht hervorbrachte. Laute Geräusche, zu viele Menschen und all dieses falsche Sein, was sich erst mit der Abendröte verzog.
Dann zerriss ein Schrei die Stille. Tsukiko zuckte zusammen und wandte sich in die Richtung, aus der dieser gekommen war. Gänsehaut breitete sich am ganzen Körper der jungen Frau aus. Diese Nacht war gerade zu etwas Besonderem geworden. Und auch, wenn es sich wie der größte Fehler in ihrem Leben anfühlte, schlich Tsukiko sich in die Richtung, in der sie den plötzlich verstummten Schreihals vermutete.