Prompt 96: Weiße Orchideen
An diesem Sommertag bot nicht einmal die kleine Hütte am Rande des Palastgeländes genug Schatten, um die Gemüter zu kühlen. Die beiden Liebenden, die sich in ihre eigene Welt zurückgezogen hatten, nutzten die wenige Zeit, die ihnen blieb so, wie sie es immer taten ‒ ihre Sucht nach Nähe und Zärtlichkeit befriedigend und dabei die Realität ausblendend, der sie am liebsten auf ewig entfliehen würden.
Als diese Pflicht getan war, schien in der vertrauten Dunkelheit des Geheimverstecks noch Zeit, einfach nur beieinander zu liegen und den Traum noch ein wenig länger andauern zu lassen.
»Ich hatte wirklich Unrecht«, murmelte Estelle in die Stille hinein, ohne dass Avelin sich sicher war, ob sie nicht eher zu sich selbst als der Frau in ihren Armen sprach.
»Womit?«, erwiderte die Blonde deshalb nur, als die Neugier in ihr aufflammte.
»Als ich dich das erste Mal sah, habe ich dich in Gedanken mit einer Rose verglichen. Doch nur weil deine Schönheit mich mit allen Sinnen betörte, hast du dennoch keine Dornen, die mir die Annäherung unmöglich gemacht hätten.«
Einige Zeit lang herrschte wieder Schweigen, während Estelle Avelin gedankenverloren übers Haar strich. Dann fuhr die Rothaarige nach einiger Zeit vor.
»Jetzt würde ich dich eher als weiße Orchidee beschreiben. Denn während Rosen sich dem Betrachter regelrecht anbiedern, werden Orchideen allein ihretwillen bewundert. Doch so unschuldig du auch auf den ersten Blick wirkst, je näher ich dir bin, desto mehr will ich. Du vergiftest mein Herz und vernebelst mir den Verstand, ohne, dass du selbst von deiner Wirkung auf andere weißt. Du bist pures Gift, doch weder machst du krank noch tötest du. Es sorgt nur für eine Sucht, die nie befriedigt werden kann. Und ich kann mich nicht wehren, so sehr ich es auch eigentlich will.«
Avelin wusste darauf nicht wirklich etwas zu erwidern. Deshalb schwieg sie und verdrängte den Gedanken, dass Estelles Worte klangen, als würde mehr hinter dieser Liebelei stecken als reiner Wahnsinn, der sich hinter stürmischer Verliebtheit versteckte. Die Blonde redete sich ein, sich verhört zu haben und genoss lieber die Zweisamkeit, die so viele Gefahren für die beiden Frauen barg.