Prompt 100: Blickfang
Das Obskure darf auf keiner guten Reise fehlen. Deshalb hatte sich John erst darauf eingelassen, der Empfehlung seines alten Freundes Tim nachzugehen und den letzten Tag seines Aufenthalts in dessen Stadt mit einem Besuch in einem Museum für Verfluchtes und Vergessenes abzurunden. John kam sich etwas lächerlich vor, als er durch die Türen des einsamen Gebäudes mitten im Nichts trat und sich fragte, warum er gerade hierher hatte kommen sollen. Der Mann kam sich zu alt vor, um an Dämonen und Geister zu glauben und war nur in dieser Stadt, weil er seinem Freund beim Umzug hatte helfen wollen.
John schien vollkommen allein im Museum zu sein. Weder konnte er andere Besucher noch jemanden, dem der Laden zu gehören schien, ausmachen. Der Mann kam sich plötzlich wie der letzte Mensch auf Erden vor. Wenn das alles war, was Tims neuer Wohnort zu bieten hatte, würde er sich wohl früher oder später zu Tode langweilen. Wie hatte er überhaupt von der Existenz dieses so abgeschotteten Häuschens erfahren? Es war John schleierhaft und er nahm sich vor, Tim danach zu fragen, wenn er wieder zu dessen Haus fuhr, um seine Sachen zusammenzupacken und zu verschwinden.
Doch jetzt, wo er schon einmal hier war, konnte sich der Mann doch auch hier umschauen, richtig? So wanderte er etwas ziellos durch die Ausstellungsräume und schaute sich die Exponate an, die ihn doch mehr faszinierten, als er zugeben wollte. John vergaß nun, dass er sich eigentlich fragte, was er hier tat, während er versuchte, sich die Geschichte und Besonderheiten jedes einzelnen Ausstellungsstück so genau wie möglich einzuprägen. Diese Wissbegier kannte der Blonde sonst nicht. Doch irgendetwas hatten diese Objekte an sich, was ihn in ihren Bann zog. Dabei war es ihm auch egal, ob es sich hier um echte Fluchobjekte oder nur um Bauernfängerei handelte. Allein, dass John sich so mitreißen ließ, sagte ihm, dass dieses Museum ein guter Tipp gewesen war und dass er Tims Vorschläge nie wieder in Frage stellen sollte.
Im dritten Raum fiel dem Besucher ein Gegenstand auf, der weiter hinten platziert und mit einem dunklen Tuch verhangen war. Langsam näherte sich John dem, was dort so halbherzig versucht wurde zu verstecken. Seltsamerweise konnte er auch kein Schild finden, das Auskunft über das Exponat gegeben hätte, wie es überall sonst im Raum und denen zuvor der Fall gewesen war. Das wunderte den Mann und entfachte nur wieder die Neugier, die ihn dazu überreden wollte, das Tuch anzuheben und einen verbotenen Blick auf das zu werfen, was scheinbar niemand ansehen sollte.
»Sie hören wohl auch den Ruf des Verbotenen, nicht wahr?«, erklang plötzlich eine unbekannte Stimme hinter John.
Erschrocken zuckte er zusammen und wandte sich abrupt zum Sprecher um. Dieser stellte sich als bereits in die Jahre gekommener Mann heraus, den John um etwa drei Köpfe überragte. Sofort schlussfolgerte er, dass das der Besitzer dieses Kuriositätenkabinetts sein musste. Irgendwie passte er einfach hierher, fand der Besucher. Einen Grund konnte er dafür aber nicht nennen.
»Gibt es einen Grund, warum man sich dieses Exponat nicht ansehen darf?«
Der Greis setzte ein Lächeln auf, das John einen kalten Schauer über den Rücken jagen ließ. Doch er ignorierte das Gefühl und konzentrierte sich lieber darauf, etwas über den Gegenstand herauszufinden, der ihn plötzlich mehr als alles andere auf der Welt interessierte.
»Natürlich, nichts geschieht je ohne Grund«, antwortete der Museumsbesitzer mit fast schon säuselnder Stimme. »Es ist einfach so, dass der Gegenstand unter dem Tuch den Ruf hat, Menschen in den Wahnsinn zu treiben, wenn sie ihn auch nur ansehen.«
Das befriedigte Johns Neugier keineswegs. »Was genau soll denn passieren, wenn man ihn ansieht?«
Der alte Mann schien für einen Augenblick mit sich zu hadern, ob er seinem Gegenüber nicht schon zu viel erzählt hatte, doch fuhr dann schließlich fort das zu erklären, was eigentlich auf dem Schildchen neben dem Exponat hätte stehen sollen.
»Der Krug, der sich in dieser Vitrine befindet, soll Menschen dazu bringen, ihren Verstand zu verlieren und das unbändige Verlangen zu entwickeln, ihn mit ihrem Blut zu füllen. Jedoch soll das nie gelingen, weil dieser Krug wie ein Fass ohne Boden ist. Jeder, der diesen Krug in seinem Besitz hatte, soll dadurch zu Tode gekommen sein.«
Der Greis hielt kurz inne und starrte das dunkle Tuch an, als wäre es gar nicht da. »Sie können froh sein, dass sich dieses Exponat in meinem Besitz ist und nicht mehr dort draußen durch die Gegend irrt. Schade ist nur, dass sich leider nicht sagen lässt, um was für eine Art von Fluch es sich hier handelt und wie man ihn eventuell brechen könnte.«
»Warum nicht?«, fragte John eine Frage, der er sich auch selbst hätte beantworten können.
»Natürlich weil man dein Krug ansehen müsste, um ihn untersuchen zu können.«
»Hatten sie denn nie den Drang, ihn anzusehen?«
Der alte Mann hatte bereits mit dieser Frage gerechnet, doch sie weckte etwas in ihm, was er am liebsten wieder verdrängt hätte. »Nein. Ich gehe nicht gerne Risiken ein und arbeite schon zu lang im Bereich des Übernatürlichen, um nicht zu wissen, dass bestimmte Regeln nicht ohne Grund aufgestellt werden. Es wundert mich nur, dass Ihnen dieses Exponat überhaupt aufgefallen ist. Sonst denken sich Besucher nicht viel dabei und gehen einfach daran vorüber. Das ist auch der Grund, warum der Krug hier oben und nicht im Lager steht. Hier habe ich das Gefühl, bessere Kontrolle über meine gottgegebene Neugier zu haben. Unten im Lager hätte ich vermutlich schon einen Blick gewagt und es gäbe niemanden mehr, der die Menschen vor den Verheerungen des Bösen warnen könnte.«
Insgeheim meinte John, dass der Greis schon ein wenig übertrieb, nahm seine Erklärungen jedoch aus gegeben hin. Damit brach das Gespräch der beiden Fremden ab und John wandte sich wieder seiner Tour durch das Museum zu. Der alte Mann konnte jedoch einfach nicht das Gefühl abschütteln, dass etwas mit diesem Burschen nicht stimmte und behielt ihn im Auge, bis dieser schließlich dem Greisen noch einen schönen Tag wünschte und verschwand.
Der Museumsbesitzer atmete auf und hatte das Gefühl, eine Tragödie abgewendet zu haben. Kurz darauf bekam er einen Anruf, dass eine neue Lieferung früher als erwartet eintreffen würde und dass der Lieferant Instruktionen benötigen würde, um richtig mit dem neuen Ausstellungsstück verfahren zu können. Schweren Herzens begab sich nun auch der Greis nach draußen, um seiner Pflicht als Museumsdirektor nachzugehen.
Als er alles erledigt hatte und das Exponat sicher im Lager verstaut hatte, um sich später eingehend damit zu befassen, wusste der alte Mann sofort, dass etwas nicht stimmte. Seine Vorahnung bestätigte sich, als er die Vitrine, die zuvor den Blutkrug beherbergt hatte, aufgebrochen wurde. Das Exponat fehlte natürlich und sofort wusste der Greis, dass es nur einen geben konnte, der es gestohlen haben konnte.
Ohne Zeit zu verlieren, griff der Museumsbesitzer zum Telefon. »Ja, ich bin's. Es geht um deinen Krug. ... Ja, er wurde gestohlen. Es scheint so, als hättest du recht gehabt. Das Ding scheint sich seine Opfer gezielt auszusuchen. ... Gut, aber beeil dich. Ich hoffe, dass du noch weißt, wie vorsichtig du sein musst. Hoffen wir für diesen Pechvogel, dass er allein ist und der Krug nicht wieder zu wandern beginnt. ... Bis dann, pass auf dich auf. Auch wenn du blind bist, weißt du nicht, was passieren kann. Immerhin könnte der Bursche noch nicht tot sein, wenn du ihn findest.«