Prompt 98: Babyparty
Es war alles perfekt. Endlich wirkte die Familie, die sonst so streitlustig war, dass jedes Fest zum Albtraum wurde, wie eine Einheit ‒ zumindest der weibliche Teil, der sich heute versammelt hatte, um das Leben zu feiern. Diese Harmonie war so ungewohnt, dass wohl keiner der Anwesenden wirklich glaubte, dass sie von Dauer sein könnte. Doch vielleicht rissen sich heute einmal alle zusammen, um die werdende Mutter nicht unnötig aufzuregen und am Ende noch das Baby zu gefährden, was die Familie erst zueinander geführt hatte.
So glücklich wie jedoch alle auf der Babyparty waren, merkte niemand, dass doch nicht alles so perfekt war, wie es auf den ersten Blick wirkte. Nur einem fiel es auf, der sich nicht von den Geschenken, der beschwingten Stimmung oder dem Anlass der Feier mitreißen ließ, wie es alle anderen Partygäste taten. Ross, einer der wenigen anwesenden Männer und jüngerer Bruder der Hauptperson des heutigen Abends, wusste, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch anstatt Morgan vor allen zu fragen, was diese Scharade sollte, wartete der junge Mann lieber, bis er die Chance hatte, allein mit ihr zu sprechen.
Diese Gelegenheit tat sich auf, als Morgan meinte, sich kurz im Bad frisch machen zu wollen, weil ihr gerade nicht sonderlich wohl wäre. Ross hatte damit gleich eine Entschuldigung, sich ebenfalls von der viel zu fröhlichen Meute zu entfernen und nach seiner Schwester zu sehen.
Der junge Mann klopfte an die Badezimmertür und sofort schien Morgan zu wissen, warum er ihr gefolgt war So zögerte sie nicht, ihn hineinzubitten, damit sie in Ruhe reden konnten, ohne dass jemand sie stören oder belauschen konnte.
»Was ist los?«, fragte Ross ohne Umschweife, weil er genau wusste, dass seine Schwester bereits erraten hatte, dass er ihr auf die Schliche gekommen war.
Nun zögerte die Dunkelhaarige doch eine Weile, als müsste sie abwägen, ob und wie sie auf diese einfache Frage antworten sollte.
»Ich weiß, dass es falsch war, euch so lange anzulügen, aber es ging nicht anders. Ich konnte einfach nicht mehr«, platzte es schließlich aus Morgan heraus.
Ross verstand nicht im Geringsten worauf seine Schwester hinauswollte. Doch anstatt nachzufragen, wartete er lieber, bis sich sein Gegenüber gesammelt hatte und endlich fortfuhr.
»Du weißt doch, wie sehr sich gerade unsere Eltern ein Enkelkind gewünscht haben. Immer wieder haben sie davon geredet und mich bedrängt, dass ich nicht jünger werde und dass es irgendwann zu spät sein wird. Ich habe mich selbst so unter Druck gesetzt und jedes Mal, wenn ich wieder einen negativen Schwangerschaftstest in der Hand hielt, kam ich mir wie ein totaler Versager vor. Alles drehte sich nur noch im Kinder und darum, dass ich es einfach nicht schaffte, schwanger zu werden. Irgendwann fing auch Corey damit an. Wir haben uns plötzlich so oft deswegen gestritten und alles war so angespannt, nur weil es einfach nicht klappen wollte. Irgendwann drohte er mir sogar, mich zu verlassen, wenn ich ihm weiterhin ein eigenes Kind verweigern würde. Als könnte ich etwas dafür und würde es mit Absicht machen! Ich konnte nicht mehr. Weder wollte ich unsere Eltern enttäuschen, noch konnte ich Corey verlieren. Ich musste es tun, okay? Was hatte ich schon für eine Wahl?«
Noch immer wurde Ross nicht wirklich schlau aus dem, was seine Schwester ihm da versuchte zu erklären. »Was hast du getan?«, fragte er deshalb leise, obwohl er meinte, die Antwort eigentlich schon zu wissen.
»Ich war nie schwanger«, gestand Morgan schließlich und klang dabei, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. So aufgelöst hatte Ross seine ältere Schwester noch nie erlebt. Sonst war sie immer jemand gewesen, der seine Gefühle für sich behielt und stark wirken wollte, selbst wenn alle um sie herum strauchelten.
»Das hier ist alles eine Lüge, damit ich endlich Ruhe habe. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, dass mir alle Vorwürfe machen, obwohl ich nichts dafür kann, dass ich einfach nicht schwanger werde. Du weißt gar nicht, wie gut es getan hat, Corey und unsere Eltern mit dieser Nachricht so glücklich machen zu können. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, alles nur falsch zu machen. Am Anfang wusste nicht nicht, wie ich diese Lüge überhaupt aufrechterhalten sollte. Doch ich habe meine Wege gefunden, um endlich ein bisschen Harmonie haben zu können. Das kannst du doch sicher verstehen?«
Nur sehr langsam fügten sich die Teile in Ross' Kopf zusammen. »Und wie willst du weitermachen?« Das war das Erste, was dem jungen Mann in den Sinn kam.
Nun schien Morgans Fassade der Stärke endgültig weggespült zu werden und sie drohte, unter ihren eigenen Tränen zusammenzubrechen. Schnell zog Ross seine Schwester in seine Arme, um ihr den Halt zu geben, den sie in diesem Moment zu brauchen schien. Morgan schien dankbar dafür zu sein, dass ihr Bruder keine Anstalten machte, sie für ihre Tat zu beschimpfen oder überhaupt nur zu sagen, wie abgrundtief krank diese Idee von Anfang an gewesen war. Doch Ross hatte auch gar nicht das Recht dazu. Er konnte seine Schwester schon verstehen, auch wenn er erst einmal verstehen musste, dass er die letzten Monate in eine riesige Lüge hineingezogen worden war. Doch noch im selben Moment, wo der junge Mann das realisierte, verzieh er Morgan. So wie sehr wie sie gerade weinte, machte sie sich selbst genug Vorwürfe, da brauchte es niemanden von außen, der noch nachtrat.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Dunkelhaarige endlich beruhigt hatte und auf die Frage ihres kleinen Bruders antworten konnte. »Ich muss es wohl oder übel wie eine Fehlgeburt aussehen lassen. Es tut weh, dass ich das tun muss, aber ich sehe keinen Ausweg, weißt du? Ich hätte bei der Wahrheit bleiben sollen. Doch jetzt ist es zu spät.«
Für eine kleine Weile herrschte Schweigen, während die beiden Geschwister einfach nur dastanden und die Realität über sich hineinbrechen ließen. Ross hielt seine Schwester die ganze Zeit über fest und wartete, bis alles wieder normal war. Doch dieser Moment würde für lange Zeit noch kommen, das wusste der junge Mann insgeheim.
»Du verrätst mich doch nicht, oder?«, fragte Morgen irgendwann so leise, dass Ross sich kurz nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte.
Nun zögerte er keine Sekunde lang und schüttelte mit dem Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich verstehe dich, auch wenn ich eine Weile brauchen werde, um das vergessen zu können. Aber ich bin dein Bruder, Morgan. Ich werde dir helfen, so gut ich kann, auch wenn ich vermutlich nicht so tun kann, als wäre nichts. Deshalb sollte ich wohl auch für heute verschwinden. Damit ich dich nicht am Ende verrate. Das verstehst du sicher.«
Die junge Frau nickte und löste sich schließlich langsam von ihrem Gegenüber. Es dauerte nicht lange, da war Morgan wieder allein im Badezimmer und fragte sich, wie sie so egoistisch hatte sein können, ihren kleinen Bruder in diese Sache mit hineinzuziehen.