Prompt 53: Nesthäkchen
Einer nach dem anderen verließen sie das Nest. Die Vogelmutter krallte sich in die Rinde des Baumes, nahm ein Küken nach dem anderen und warf dieses hinaus, damit es das Fliegen erlernte. Es war eine harte Art zu lernen. Doch auch eine effektive. An diesen Tag wurden drei kleine Küken zu jungen Vögeln, die nun ihren eigenen Weg im Leben bestreiten konnten.
Nur ein Küken war noch übrig. Es weigerte sich, von der Mutter gepackt zu werden, kauerte sich in die hinterste Ecke der Kinderstube und zitterte – so sehr fürchtete es sich davor, das Nest zu verlassen.
Was würde das Küken erwarten, wenn es zusammen mit seinen Geschwistern hinaus in die Welt zog? Es wäre ganz allein. Das alles kam ihm viel zu viel vor. Lieber blieb das Küken im Nest sitzen, wusste, was es hatte und veränderte nichts, so sehr die Zeit auch drängte.
Immer wieder versuchte die Vogelmutter ihr jüngstes Kind zu überreden, doch das Fliegen zu lernen, wie es all die anderen Vogel auf dieser Welt taten, ohne lange darüber nachzudenken. Oder gar Angst vor ihrer eigenen Natur zu haben. Das Fliegen machte die Vögel einzigartig, versuchte die Mutter dem Küken immer wieder zu erklären, doch es ließ sich nicht beirren. Es konnte auch ein Vogel sein, ohne das Nest jemals zu verlassen, hatte es sich in den Kopf gesetzt. Daran konnten auch die mahnenden Worte der Vogelmutter nichts ändern.
Diese gab es schließlich auf, das Küken umstimmen zu wollen und verließ nun selbst das Nest, um sich einen neuen Partner und eine neue Familie zu suchen, bis sie wieder die Mutterinstinkte verließen und sie nur noch reisen und die Welt von oben sehen wollte. So blieb das Küken allein im Nest zurück. Niemand war mehr da, der ihm Gesellschaft leisten konnte und auch niemand kam, um es zu füttern. Die Tage vergingen so nur sehr langsam und der junge Vogel wurde so auch immer trauriger und hungriger.
So hatte er sich das Leben im Nest nicht vorgestellt. Vor allem wollte das nun erwachsene Küken nicht hören, wie dort draußen die anderen Vögel zwitscherten und klangen, als würden sie es dafür auslachen, dass es nicht fliegen wollte. Der Hunger nagte an dem jungen Vogel noch dazu. Die Angst vor der Welt hatte ihn immer mehr an Kraft verlieren lassen, sodass er sich fühlte, als wäre seine Entscheidung nun unumkehrbar. Wie sollte er fliegen, wenn er kaum noch von der einen Seite des kleinen Nestes zur anderen hüpfen konnte? Wenn der junge Vogel sich weiter weigern würde, seiner Natur zu folgen, wäre es wohl bald aus mit ihm und dem Leben ohne Flügel.
Doch dieses wollte er auch gar nicht mehr. Diese Schwäche fühlte sich falsch an und das Küken bereute nun, nicht sofort mit seinen Geschwistern ausgeflogen war, um die Welt zu bereisen.
Deshalb raffte sich der junge Vogel auf, überwand das Gefühl der Schwäche und kämpfte sich vor zum Eingang des Nestes, den schon seit einer gefühlten Ewigkeit niemand mehr benutzt hatte. Für einen langen Moment schaute das Küken hinunter und stellte zum ersten Mal fest, wie weit das Nest doch entfernt vom Waldboden war und wie tief es fallen würde, wenn es nicht rechtzeitig lernen würde zu fliegen.
Wieder wollte die Angst den jungen Vogel davon abhalten, selbstständig zu werden. Doch das ließ er an diesem Tage nicht mehr zu. Stattdessen breitete er die kleinen Flügel aus, nahm all seinen Mut zusammen und ließ sich dann einfach fallen.
Seine Gedanken rasten in der Schwerelosigkeit. Für einen Moment hatte der junge Vogel das Gefühl, als hätte er sich gerade in den Tod gestürzt. Doch dann fiel ihm wieder ein, was seine Mutter gesagt hatte: Vögel dachten nicht über das Fliegen oder Fallen nach. Es war ihre Natur mit dem Wind zu ziehen und über allem zu thronen, was niemals so hochhinaus kommen würde wie sie selbst.
Und plötzlich flog der junge Vogel. Von ganz allein bewegten sich seine Flügel. Die Angst war dahin. Sie hockte vermutlich noch im Nest, oder war zu Boden gefallen, wie das Küken, das sich von ihr hatte beherrschen lassen. Doch dieses gab es jetzt nicht mehr. Der junge Vogel war über seinen eigenen Schatten gesprungen und war endlich frei – wie es alle Vögel waren, die in diesem Moment mit ihm am strahlend blauen Himmel kreisten, während die Welt unter ihnen vorüberzog. Endlich hatte das echte Leben begonnen.