Prompt 97: Verhext
Estelle war schon immer anders gewesen.
Schon kurz nachdem sie geboren worden war, machte sich in der ärmlichen Hütte, die ihre Eltern ihr Eigen nannten, eine Kälte breit, die sich niemand erklären konnte. Egal was man tat, sie verschwand nicht, als hätte statt des Lebens der Tod Einzug gehalten. Etwas stimmte nicht ‒ das war allen klar, die Estelle ansahen.
Das Kind mit den feuerroten Haaren hatte etwas an sich, was den Dorfbewohnern das Fürchten lehrte. Doch niemand konnte benennen, was diese tiefgreifende Angst, die beim Anblick Estelles Besitz von den Herzen der Menschen ergriff, auslöste, also unternahm auch niemand etwas, um dem Gefühl auf den Grund zu gehen. So lebte das Böse jahrelang unter Gottes Schäfchen und wuchs heran zu dem Schrecken, den alle bereits in ihm gesehen hatten.
Es war ein trüber Tag im Winter, als plötzlich alle Kinder des Dorfes dem Teufel zu verfallen schienen. Manche rannten umher, schrien aus vollem Halse Verrücktheiten, die sich niemand zusammenreimen konnte und warfen sich schließlich in den Dreck, um sich darin zu wälzen, als würden sie in Flammen stehen und diese nun löschen wollen. Andere griffen zu allem, was sich an Waffen finden ließ, und verletzten sich selbst, oder die, die sie zu fassen bekamen. Es herrschte das reinste Chaos. Niemand konnte sich erklären, woher dieser akute Wahnsinn kam und was unternommen werden konnte, um diesem Einhalt zu gebieten.
Während Eltern also durch die Hand ihrer eigenen Kinder gerichtet wurden und andere über Feuer in ihrem Inneren klagten, das ihnen die Luft zum Atmen nahm, war nur eine Person vollkommen ruhig, als wäre sie gar nicht anwesend.
Estelle hatte sich gelangweilt und wollte nicht mehr warten, das auszuprobieren, was sie von Anfang an durch ihre Adern hatte fließen lassen. Das Kind wusste, dass es dazu bestimmt war, Unheil über die Menschen zu bringen. Doch es störte sich nicht mehr daran. Eher war Estelle stolz darauf, nicht ein so erbärmliches Leben wie ihre Eltern führen zu müssen, das nur voller Entbehrungen und Leid war, um schließlich mit einem ebenso jämmerlichen Tod belohnt zu werden. Das Teufelskind wollte mehr und konnte deshalb einfach nicht mehr ruhig bleiben und so tun, als wäre es so nutzlos wie die anderen im Dorf.
Warum sollte sich die junge Hexe auch verstecken, wenn sie allein mit ihren acht Jahren mehr Macht hatte, als sich diese Bauerntölpel überhaupt vorstellen konnten? Das Mädchen mit den roten Haaren wollte der Teufel sein, den seine Eltern so sehr fürchteten. Es hasste den Gott und die Menschen, die er verschaffen und so dumm gemacht hatte, dass sie wahre Größe einfach nicht verstanden. Deshalb war Estelle sich auch sicher, dass sie von nun an die Führung übernehmen würde. Immerhin hatten die Dorfbewohner dem Mädchen nicht das Geringste entgegenzusetzen.
Doch es kam ganz anders. Anstatt sich das gottlose Unheil, das der Teufelsbraten so leichtfertig über die Menschen brachte, gefallen zu lassen, berieten sie sich lieber darüber, wie sie Estelle loswerden konnten.
Am Ende waren es ihre eigenen Eltern, die das Kind gefangen nahmen, fesselten und weit hinaus in den Wald brachten, um es dort auszusetzen. Ohne Essen und warme Kleidung hier draußen im Winterwald hoffte das Paar bald die Schuld los zu sein, die es sich auf die Schultern geladen hatte. Es fiel den Bauern so leicht, ihren eigenen Nachwuchs an eine alte Eiche gekettet zurückzulassen, dass sie meinten, sie würden nur Gotteswillen erfüllen.
Doch so schlecht es auch für Estelle aussah, das Böse fand immer seinen Weg. Als die Tage ins Land zogen, das Kind immer mehr an Kraft verlor und alles wirkte, als müsste es an Ort und Stelle sterben, erklang eine Melodie, die etwas noch Dunkleres als den Schatten an Estelles Seite anlockte. Dieses Wesen labte sich eine Weile am Leid des Kindes, ehe es den Todesgesang verstummen ließ, um sicher sein zu können, dass nicht noch mehr seiner Sorte von dem Klang angelockt und dem Besucher die Beute streitig machen würden.
»Du willst nicht sterben, habe ich recht?«, fragte der Schatten, den Estelle nicht sah, aber dessen Anwesenheit sie förmlich erdrückte.
»Nein, ich will mehr als das«, war alles, was das Mädchen antwortete. Seine Gedanken begannen wirr zu werden, so wenig Zeit blieb ihm noch.
»Ich kann machen, dass es aufhört und dass du nie schwach sein musst«, flüsterte der Schatten. »Doch die Unsterblichkeit hat ihren Preis. Die Macht, die du haben wirst, wird sich dir nicht einfach unterwerfen, wie sie es jetzt tut. Du wirst Menschen töten müssen, um selbst leben zu können. Ihre Energie wird dich stark machen. Doch du wirst niemals satt sein, egal wie viele Leben du dir einverleibst.«
Estelle zögerte keine Sekunde und nahm das Angebot des Höllenabkömmlings an. »Lieber lebe ich als Monster auf ewig, als meine Macht an die Dummheit von ein paar Bauern zu verschwenden.«
Damit war das Schicksal der jungen Hexe besiegelt. Bis in alle Ewigkeit würde sie ihrem Hass auf die Menschen frönen und sie schlachten wie Tiere, nur um die Gaben nicht verlieren zu müssen, die ihr wichtiger als alles andere auf der Welt waren.