Prompt 104: Hagestolz
Beinahe sein ganzes Leben lang hatte Edgar keine Chance gehabt, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Immer hatte er im Schatten seines Bruders Casper gestanden, der nach dem frühen Tod ihrer Eltern das Anwesen geerbt und seit dem als sehr wohlhabender Mann gelebt hatte. Der Saus und Braus war ihm irgendwann zu Kopf gestiegen und er hatte zwar so getan, als wäre er der Alleinherrscher seines Reiches, doch hatte sich in Wahrheit nie um eben jenes gekümmert.
Edgar hatte hingegen vom Reichtum seiner Eltern nichts vermacht bekommen und war so mittellos gewesen, dass er gezwungen gewesen war, sich in die Dienste seines arroganten Bruders zu stellen. All die Jahre über hatte der Jüngere das Anwesen verwaltet und nur eine kleine Hütte im hinteren Teil des Geländes sein Eigen genannt.
Vor einiger Zeit jedoch wurde Edgar die Nachricht überbracht, dass Casper nicht nur gestorben war, sondern seinem jüngeren Bruder seinen ganzen Besitz vermacht hatte. Wer sonst hätte auch das Erbe antreten sollen, wo der alte Gutsbesitzer und seine Frau immer kinderlos geblieben waren und es sonst niemanden gab, dem der Greis sein Hab und Gut nach dem Tod hätte anvertrauen können?
Jedoch wünschte sich Edgar nun, wieder in die Zeit zurückkehren zu dürfen, in der er zwar nur ein einfacher Verwalter, aber immerhin keine Person gewesen war, die immer im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen hatte. Der alte Mann konnte sich nicht mehr an die Autorität gewöhnen, die er nun hatte, wo er all die Jahre über doch nicht im Geringsten beachtet worden war. Dieses neue Leben eines reichen Grundbesitzers wurde Edgar einfach zu viel. So überließ er lieber anderen die Verantwortung, die der Reichtum mit sich brachte und zog sich immer wieder in seine kleine Hütte zurück, in der er sich wünschte, sein Bruder hätte ihm nie einen Gefallen tun wollen.