Prompt 114: Bunte Blätter
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du reinkommen sollst, bevor es dunkel wird?«
Annika schaute ihren Sohn streng an. Dieser richtete den Blick schuldbewusst zu Boden und schwieg. Weil beiden klar war, dass der kleine Jonas schon viel zu oft ermahnt worden war und dennoch immer wieder vergaß, auf seine Mutter zu hören.
»Es tut mir leid«, murmelte der Junge kleinlaut. »Die Blätter waren so toll, dass ich ganz die Zeit vergessen habe.«
Wäre Annika nicht so besorgt gewesen, hätte ihr diese Ausrede ein Schmunzeln entlockt. Doch die Mutter blieb hart, so schön es auch mitunter war, dem Jungen beim Harken und Spielen in den Blätterhaufen zuzusehen.
»Im Dunkeln ist es gefährlich. Das weißt du doch eigentlich.«
Jonas nickte langsam. Immer noch traute er sich nicht, Annika direkt anzusehen. »Keine Sorge, Mama. Kommt nicht wieder vor.«
Mit diesem Worten zog sich der Junge seine Jacke aus und verschwand in seinem Zimmer. Man sah Jonas an, wie sehr er sich die Worte seiner Mutter zu Herzen nahm. Es tat ihr in der Seele weh, ihn so enttäuscht zu sehen. Doch es gab auch nichts, was die junge Frau hätte sagen können, um die Schuldgefühle verschwinden zu lassen. Weil die Sorge eben doch berechtigt war in einer Welt wie dieser, in der Kinder mitunter aus dem elterlichen Hintergarten verschwanden. Wenn es überhaupt so weit kam, wenn doch schon ein brechender Ast reichte, um Jonas ein Auge auszustechen.
Annika machte sich wohl zu viele Gedanken. Sich noch immer schuldig fühlend, ihren Sohn so enttäuscht zu haben, legte sich die junge Frau schlafen.
Am nächsten Morgen, als die Mutter Jonas wecken wollte, wusste sie nicht, ob sie wütend sein oder besorgt sein sollte. Alles, was sie wusste, war, dass ihr Sohn sie hintergangen hatte. Er war nachts noch einmal draußen gewesen. Wie sonst sollte der Laubhaufen in sein Zimmer kommen?
Schon wollte die junge Frau wieder anfangen zu schimpfen, doch Jonas kam ihr zuvor.
»Jetzt muss ich gar nicht mehr rausgehen, um im Laub zu spielen«, erklärte er freudestrahlend. Als seine Mutter wenig überzeugt wirkte, wirkte der Junge wieder eingeschüchtert und warf einen Blick auf den Laubhaufen, der einfach nur da war und in allen Farben des Herbstes leuchtete. »Keine Sorge, ich kann mein Zimmer trotzdem ordentlich halten. Du und Mami müsst mir dabei auch nicht helfen.«
Annika wusste nicht, was es war, doch irgendetwas an diesen Worten ließ sie nachgeben. Sollte Jonas doch im Laub spielen, so lange er wollte. Es hatte keinen Sinn, dagegen anzukämpfen. Es war vielleicht ein wenig beunruhigend, dass der Junge so fasziniert von toten Blättern war, doch was sollte die Mutter schon tun, um es zu unterbinden? Viel wichtiger war es doch, dass Jonas Spaß hatte. So wie jetzt, wo er sich auf den Boden setzte und jedes einzelne Blatt des Laubhaufens nahm, genauestens inspizierte und dann nach seinem ganz eigenen System sortierte.
Eine Weile schaute Annika ihrem Sohn dabei zu. Stille herrschte dabei, weil es zu wenig Raum für Gespräche gab.
»Kann ich die Blätter für immer behalten?«, fragte Jonas aus dem Nichts heraus.
Die junge Frau war ein wenig überrumpelt, bevor sie mit dem Kopf schüttelte. »Nein. Die Blätter werden auch älter und müssen leider irgendwann zu Erde werden. Damit der Baum, von dem sie gefallen sind, wieder neue Kraft schöpfen kann.«
Wieder machte sich Enttäuschung breit. Doch diesmal fiel Annika etwas ein, um ihren Sohn wieder aufzuheitern.
»Ich habe aber eine Idee, wie du deine Lieblingsblätter für immer behalten kannst.«
Jonas' Augen wurden groß. »Wie denn?«
Lächelnd erklärte die Mutter, dass sie zusammen ein Herbarium anlegen könnten. Damit die Schönheit des Herbstes immer erhalten blieb und Jonas nicht wieder enttäuscht sein musste. Natürlich war der Junge sofort einverstanden und fing an, seinen Laubhaufen weiter zu sortieren.
Zufrieden ließ Annika ihren Sohn allein mit seiner ganz eigenen kleinen Herbstwelt, die er sich da so mühsam zusammengezimmert hatte. Niemand hatte das Recht, diese durch Unverständnis kaputt zu machen. Auch nicht Annika, die einsehen musste, dass es nichts brachte, Jonas vor allem zu beschützen, was potenziell gefährlich sein konnte. Weil das auch alles mit einschloss, was gut sein konnte, so merkwürdig es auf den ersten Blick auch wirken mochte.