Prompt 109: Erster Kuss
Es war ewig her, dass sie allein zusammen Zeit verbracht hatten. Obwohl nichts zwischen den beiden Freundinnen vorgefallen war, hatte es sich in letzter Zeit angefühlt, als würden sie sich immer weiter voneinander entfernen.
Dementsprechend fühlte es sich nun für beide komisch an und irgendwie angespannter als sonst. Das hielt die beiden Mädchen jedoch nicht davon ab, über alles Mögliche zu reden und Spaß zu haben wie eh und je. Stille hätte die Distanz nur greifbarer gemacht. Deshalb wurde auch mit allen Mitteln versucht, das Gespräch am Leben zu erhalten.
»Was denkst du eigentlich, wie sich ein Kuss anfühlt?«, fragte Anna aus dem Nichts heraus.
Emily überlegte, was sie auf eine derart seltsame Frage antworten sollte. »Keine Ahnung. Habe ich nie drüber nachgedacht. Warum fragst du?«
»Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass ein Kuss so besonders ist, wie alle immer sagen. Dafür wirkt ein Kuss doch viel zu klein, finde ich.«
Emily nickte langsam. »Vermutlich. Filme machen Küssen immer so dramatisch. Muss man wohl mal selbst gemacht haben, um sich darunter was vorstellen zu können.«
Sofort lockerte sich die Stimmung wieder. Die Freundinnen machten sich eine Weile lang über all die Filme lustig, die Liebe zu blindem und idiotischem Wahnsinn verkommen ließen.
Während Emily noch lachte, ergriff Anna ihre Chance und überraschte ihre beste Freundin mit einem Kuss. Für einen Moment erwiderte diese ihn reflexartig, ehe sie erst begriff, was gerade geschah und zurückzuckte.
»Was war das denn?«, fragte Emily fassungslos.
Anna brauchte ebenfalls ein paar Sekunden, um sich wieder zu fangen, so überrascht wie sie von sich selbst war.
»Ich wollte das schon seit einer Weile tun«, antwortete Anna kleinlaut. »Tut mir leid, wenn dir das unangenehm war.«
Nun herrschte zwischen den Freundinnen das zuvor so gefürchtete Schweigen, ehe Emily aufstand und sich den Rucksack schnappte, den sie für die eigentlich geplante Übernachtungsparty mitgebracht hatte. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Mir ist das alles gerade zu viel. Tut mir leid.«
Mit diesen Worten verschwand Emily aus dem Haus und ließ Anna allein, die sich nun fragte, ob sie diese langjährige Freundschaft durch ihre dummen Gefühle endgültig zerstört hatte.