Prompt 106: Morgentau
Die Nacht neigte sich allmählich dem Ende zu. Doch so friedlich die Welt zu dieser Zeit auch wirken mochte, der Tag folgte nicht so selbstverständlich auf den Tag wie die Menschen dachten. Vor ihren Augen verborgen lebten Wesen, die die Nacht erst dunkel machten. Sie waren so viel älter als die Menschheit selbst und somit konnte sich auch keiner daran erinnern, dass die Welt früher einmal immer hell gewesen war, bevor die Nachtbringer sich diesen Planeten einverleibt hatten. So weiß auch niemand, woher sie ursprünglich stammen und warum sie herkamen, um alles in endlose Schwärze zu tauchen.
Es gibt nur wenige, die überhaupt von der Existenz der Nachtbringer wissen. Die meisten davon sind Mitglieder der Operation Morgentau ‒ mutige Männer und Frauen, die immer kurz vor dem eigentlichen Sonnenaufgang losziehen und sich ins Kriegstreiben werfen, von dem die meisten nicht das Geringste mitbekommen. Man würde nicht lügen, würde man sagen, dass dieser Job der gefährlichste der Welt ist. Und auch der, der am wenigsten Aufmerksamkeit bekommt. Doch darum geht es den Soldaten nicht. Sie wollen bekämpfen, was ihnen das Licht zu stehlen versucht. Je weniger Menschen von diesen Wesen wussten, desto weniger konnten Einsätze gefährdet werden, wenn Schaulustige mit eigenen Augen sehen wollten, wie die Soldaten um das Wohl des nächsten Tages kämpften. Viele wurden dabei verletzt und andere starben sogar, doch das war es den Freiwilligen wert. Selbst wenn die Wesen in ihren Kopf eindrangen und es schafften, sie gegen ihre eigenen Kollegen aufzuhetzen, war jeder bereit, sich selbst für den Sieg gegen die Nachtbringer zu opfern.
So auch Leah, die erst seit wenigen Monaten der Operation angehörte. Heute sollte das erste Mal sein, dass sie in Begleitung ihres Ausbilders nach draußen durfte. Lange hatte die junge Frau auf diesen Tag hingefiebert und war nun umso aufgeregter, als es endlich losging.
»Bleib immer in meiner Nähe und tue auch nur das, was ich dir sage«, war das Letzte, was Ethan seiner Schülerin mitgab, bevor sie zusammen aus der Basis schlichen. Leah tat diesen Rat als unnötig ab. Immerhin war sie kein Frischling mehr und wusste, was zu tun war.
Während die beiden in der Dunkelheit patrouillierten und nach Gegnern Ausschau hielten, fragte sich Leah, ob dieser Job wirklich so wichtig war, wie ihn immer weisgemacht wurde. Natürlich, niemand würde in endloser Dunkelheit leben wollen und niemand wusste, was die Nachtbringer dann mit den Menschen machen würden, wenn sie ihr Ziel erreicht hätten, aber gab es denn überhaupt einen Ausweg aus diesem Krieg? Sterbliche haben immerhin keine Chance gegen Wesen, die man nicht töten kann, egal was man versucht. Doch das würde Leah vermutlich nicht davon abhalten, für jeden neuen Sonnenaufgang zu kämpfen. Egal, wie düster sonst alles aussehen mochte.
Plötzlich blieb Ethan abrupt stehen. Damit wurde auch Leah aus ihren Gedanken gerissen und folgte dem Blick ihres Ausbilders. Heute schien so etwas wie ihr Glückstag zu sein. Die beiden Soldaten sahen sich nicht nur einem Nachtbringer, sondern einer ganzen Kolonie gegenüber. Wenn sie die vertreiben könnten, sollte der Tagesanbruch gesichert sein.
Doch noch ehe Leah sich in den Kampf werfen konnte, hielt Ethan sie zurück. »Bleib hier und ruf Verstärkung. Zu zweit schaffen wir das nie.«
Die junge Frau nickte widerwillig und machte sich sofort daran, den Befehl ihres Ausbilders in die Tat umzusetzen. Währenddessen hielt Ethan Wache, um sicherzugehen, dass die Nachtbringer nichts von den Eindringlingen mitbekamen.
Leah legte gerade auf, nachdem ihr die Frau am anderen Ende der Leitung versichert hätte, dass die Verstärkung bald eintreffen würde, als ein animalisches Brüllen sie zusammenzucken ließ. Die Nachtbringer hatten die beiden Soldaten nun wohl doch bemerkt. Aber ehe die junge Frau begriff, was überhaupt um sie herum passierte, brach das Chaos schon aus.
Während sie nun dastand und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, hatte Ethan schon seine Waffen gezückt und hatte sich den Angreifern entgegengestellt. Doch er hatte recht gehabt ‒ es waren zu viele und ein Sieg war aussichtslos. Leah wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wartete förmlich darauf, dass ihr Ausbilder irgendetwas rief, was sie tun sollte, doch er war zu sehr auf die Nachtbringer konzentriert, um das zu tun. Hilflosigkeit erfasste sie, während sie hoffte, dass die Verstärkung bald kommen würde.
Es schienen Stunden zu vergehen, ehe die junge Frau Schritte hinter sich hörte. Doch sie hatte keine Zeit, erleichtert zu sein. Denn noch während die Verstärkung anrückte, hatte Ethan scheinbar vergessen, wer sein Feind war. Anstatt auf die Nachtbringer loszugehen, wandte sich der Mann nun gegen seine Schülerin, die sich erst jetzt aus ihrer Starre lösen konnte. Sie setzte sich zur Wehr, aber so oft sie auch mit Ethan das Kämpfen geübt hatte, sie war ihm nicht gewachsen.
So rang er sie zu Boden und stach so lange auf Leah ein, bis sie meinte, schon vollkommen durchlöchert zu sein. Die Welt drehte sich plötzlich viel zu schnell und alles, was die junge Frau noch mitbekam war, wie sich andere Soldaten auf Ethan stürzten, ihn töteten und sich dann den Biester zuwandten, die die eigentlichen Feinde waren. Dann verlor sie das Bewusstsein.