Prompt 117: Um jeden Preis
Bereits als die Tür aufging, hätte Henry ahnen müssen, dass etwas nicht stimmte. Stattdessen lag er einfach nur da, lauschte der Melodie, die die kalten Maschinen, die ihn am Leben hielten, ununterbrochen für ihn sangen und verfolgte mit den Augen, wer da unangekündigt ins Krankenzimmer trat. Ohnehin war Schauen das einzige, was der alte Mann noch tun konnte – so sehr er auch noch bei Bewusstsein war, der körperliche Verfall ließ sich nicht aufhalten. Allein sich aufzurichten und den Fremden wissen zu lassen, dass Henry mehr war als die blasse Hülle, die nach Krankheit stank und dem Tod näher war als dem Leben, war eine schiere Unmöglichkeit. So lag der Mann nur da und musterte den Besuch, der kaum mehr war als ein schwarzer Schemen in diesem viel zu hellen Zimmer.
Was wollen Sie?, wollte Henry fragen, doch ihm fehlte die Stimme dazu.
»Ich bin gekommen, um dich von einem Leid zu erlösen.«
Es war, als hätte der Fremde die Gedanken seines Gegenübers gelesen. Die Stimme des Dunkelgekleideten war tief und hatte etwas Beruhigendes an sich, was dem Kranken ein wenig die Anspannung nahm, die er zuvor bei dieser Ruhestörung verspürt hatte.
Zumindest so lange, bis die Bedeutung der Worte zu Henry durchdrang. Am liebsten hätte er geschrien, wäre aufgesprungen und vor diesem Mann davongerannt, der so unheilvoll neben dem Bett stand. Henry wollte nicht sterben. Seine panische Angst vor dem Tod hatte ihn doch erst hierher gebracht, mehr Maschine als Mensch, sich keinen Millimeter mehr rührend aber doch noch so sehr am Leben, dass sich das Vermögen lohnte, das diese Flucht vor dem Tod tagtäglich fraß. Geld hatte Henry genug. Nur die Zeit arbeitete nicht mehr für ihn, wie sie es früher getan hatte, als er sich zur Sorglosigkeit hochgearbeitet hatte. Jetzt musste das Vermögen die Zeit zurückholen, die dessen Beschaffung verschwendet hatte. Und solange es das tun konnte, sollte kein Todesengel es wagen, sich in den Lauf der Dinge einzumischen.
Als hätte er auch dem stummen Winseln nach Gnade gelauscht, schüttelte der Fremde mit dem Kopf.
»Keine Sorge. Ich bin nicht hier, weil deine Zeit gekommen ist. Im Gegenteil. Ich habe dein Klagen gehört und will dir die Ewigkeit anbieten. Ohne Sorgen, ohne Angst vor dem Nichts, einfach nur leben, bis die Welt zuerst ihr Ende findet. Wie klingt das für dich?«
Erleichtert schloss Henry für einen Moment die Augen, um sich von dem Schreck erholen zu können. Wie lächerlich es doch war, dass dem alten Mann gerade jetzt die Unsterblichkeit angeboten wurde. Das musste ein Traum sein. Wer wenn nicht Gott selbst hätte schon die Macht dazu, Menschen ewig leben zu lassen?
»Du irrst schon wieder«, warf der Fremde mit einem amüsierten Glucksen ein. »Gott ist es nicht, der die Menschen leben und sterben lässt. Ich bin einer von denen, die entscheiden, wer geht und wer kommt. Doch nicht, ohne einen Preis zu verlangen. Wenn du bereit bist, diesen zu zahlen, werde ich dir geben, was du dir so sehnlich wünschst.«
Darüber musste Henry gar nicht erst nachdenken. So sehr er auch noch dem Fremden misstraute, der scheinbar alles andere als menschlich war, so ein Angebot bekam man nicht alle Tage. Die Angst ließ den Kranken seine Entscheidung fällen. So legte der Greis alle Kraft, die er im Moment aufwenden konnte in den Gedanken, dass er alles tun würde, was von ihm verlangt wurde, wenn er dafür nur Gevatter Tod niemals begegnen müsste. Henry schrie dies förmlich, was den Fremden kurz zusammenzucken ließ, ehe er nickte.
»Gut, dein Wunsch ist mir Befehl.«
Dann wurde es plötzlich unfassbar ruhig. Die Zeit schien stillzustehen und es fühlte sich an, als wäre die Welt für einige Sekunden zu Eis erstarrt, ehe alles wieder wie gewohnt weiterlief, als wäre nichts geschehen.
Der Dunkelgekleidete nickte zufrieden und entfernte sich einige Schritte vom Krankenbett.
Henry tat wieder nicht mehr, als den Bewegungen seines Gegenüber mit den Augen zu folgen. Sonst blieb er liegen und versuchte noch immer zu begreifen, was gerade passierte.
»Nun komm schon. Steh auf. Willst du deine Ewigkeit etwas mit Liegen vergeuden?«
Zunächst wehrte sich Henrys gesamter Körper dagegen, auch nur einen Muskel zu rühren. Zu lange hatte er sich nicht mehr bewegt. Es kam dem Greis vor, als müsste er das Laufen wieder erlernen, wie es Kleinkinder oder Komapatienten taten.
Doch noch ehe er viel darüber nachdenken konnte, welches Körperteil eigentlich zuerst bewegt wurde, wenn man aufstehen wollte, stand Henry schon aufrecht neben dem Bett. All die Kabel, die ihn mit den lebenserhaltenden Maschinen verbunden hatte, hatte er abgestreift wie ein Kleidungsstück, dass ihn eher erstickt hatte als von Nutzen zu sein.
Mechanisch bewegte sich der Greis auf seinen Erlöser zu. Die ersten Schritte waren wacklig, doch schnell erinnerte sich Henrys eingefallene Muskeln an die Bewegungsabläufe, die sie Jahrzehnte lang ausgeführt hatten. Der alte Mann fühlte sich wie neugeboren und lachte über sich selbst, wie viel Zeit und Geld er verschwendet hatte, auf die herkömmliche Art seiner Sterblichkeit zu entfliehen. Was waren Ärzte schon gegen einen Gott, der die Zeit manipulieren konnte?
Zielsicher wollte Henry zur Tür gehen. Das Zimmer kam ihm plötzlich so klein und stickig vor, dass er keine weitere Sekunde darin verweilenn wollte. Die Welt stand ihm offen. Hinter der schweren, kalkweißen Tür lag alles, was er sich nicht hatte erkaufen können.
»Nicht so voreilig.« Der Fremde schmunzelte, als er an Henrys Seite erschien und ihn davon abhielt, den Raum zu verlassen. »Du musst deinen Teil der Abmachung noch einlösen.«
Diese Worte klangen schon wieder so unheilvoll. Und doch zögerte der alte Mann keinen Moment lang zu fragen, was er denn tun müsste, um seine Schuld zu begleichen.
»Ich verlange nicht viel«, erwiderte der Dunkelgekleidete. »Nur deinen Gehorsam.«
»Was soll ich tun?«, fragte Henry noch einmal.
Sein Gegenüber seufzte ergeben. »Niemand wird dir deine Identität zurückgeben, weil dich alle in diesem Krankenhaus schon abgeschrieben haben. Du bist ein leeres Blatt, also kannst du außerhalb dieses Raumes nicht existieren. Zumindest nicht, bis du dir die Identität eines anderen erschleichst. Nebenan liegt ein Mann, der genauso reich ist wie du. Er liegt im Koma und hat doch mehr Chancen auf eine zweite Chance als du. Stiehl sein Geld und seine Papiere, dann kannst du das Krankenhaus verlassen, ohne dass dich jemand aufhalten wird.«
Nun zögerte Henry doch. Das alles kam ihm nicht sonderlich schlüssig vor. Was hatte irgendein Patient damit zu tun, ob der Greis hinaus in die Welt ziehen konnte oder nicht? Dennoch stand Ungehorsam nicht zur Debatte. Zu groß war die Angst, die neugewonnene Kraft zu verlieren und wieder ans Bett gefesselt zu sein.
So tat Henry, wie ihm geheißen. Dass sein Opfer nichts von dem Verbrechen mitbekam, dämpfte die Schuldgefühle ein wenig. Der Diebstahl lief so automatisch ab wie das Laufen. Und schon im nächsten Moment verließen Henry und sein düsterer Begleiter das Krankenhaus. Niemand beachtete die Gehenden. Es war, als wären sie unsichtbar trotz der Krankenhauskleidung, die der Greis immer noch trug.
Henry atmete auf, als Sonnenlicht ihn das erste Mal seit Jahren an der Nase kitzelte. Er fühlte sich sofort so viel jünger und am liebsten hätte er die ganze Welt zu Fuß bereist, so sehr wie er neue Energie in sich aufkeimen spürte.
Stattdessen hielt sich der alte Mann an der Seite seines Begleiters und sog alles in sich auf, was diese Wanderung zu bieten hatte.
So lange, bis der Fremde stoppte und Henry bedeutete, es ihm gleich zu tun.
»Es fehlt noch etwas, um dich von der Zeit endgültig lösen zu können.«
Der Greis antwortete nicht, sondern wartete nur darauf, dass der Gott weitersprach.
»Menschen sind dazu da, sich zu vermehren und den Erhalt ihrer Rasse zu sichern. Das weißt du sicherlich. Doch genau das ist, was euch sterblich macht. Sobald ihr Nachwuchs zeugt, sind es eure Kinder, die euch die Zeit stehlen. Wir stehen vor dem Haus deiner Tochter. Ich glaube, du weißt, was du zu tun hast, wenn du wirklich ewig leben möchtest.«
Henry nickte nur. Es brauchte keine Worte, um seinen Gehorsam auszudrücken. Die Angst vor dem Tod war größer als alles andere. Henry wollte ewig leben. Und er war schon zu weit gekommen, um sich jetzt von so etwas Lächerlichem wie Familienbanden aufhalten zu lassen.