Prompt 102: Hoffnungsschimmer
Der kleine Verhörraum drohte die junge Frau zu ersticken. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, doch allein das eintönige Weiß der Wände und die Leere im Raum, die so viel Platz für schlechte Gedanken ließ, lösten eine tiefe Unruhe in der Zeugin aus. Am liebsten wäre sie aus der Polizeistation gestürmt, um wieder klar denken zu können. Doch Valeria hatte noch etwas zu erledigen. Deshalb musste sie sich zusammenreißen und alles runterschlucken, was ihr gerade so unerträglich vorkam.
Sie wusste nicht, warum der Polizist sie in gerade diesen Raum hatte führen müssen, als sie fragte, ob es einen Ort gäbe, an dem sie ihre Aussage ungestört machen könnte. Vielleicht hatte der Mann seine Klientin einfach falsch verstanden und dachte, sie würde unter Wahnvorstellungen und Paranoia leiden. Aber Valeria war vollkommen bei sich ‒ wenn man von der Trauer absah, die die junge Frau quälte.
»Worum geht es denn eigentlich?«, fragte der Polizist. Seine Stimme klang einfühlsamer als seine Frage.
»Ich möchte einen Mord melden«, begann Valeria schleppend, während sie sich zusammenreißen musste, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
Sofort wurde der Gesetzeshüter hellhörig. »Einen Mord?«, wiederholte er beinahe ungläubig und musterte sein Gegenüber für den Bruchteil einer Sekunde. Dann kam der Beamte zu dem Schluss, dass diese Frau wohl kaum jemanden umgebracht haben würde. Zumindest nicht so, dass man es als Mord anklagen könnte.
»Auch wenn es vielleicht verrückt klingt, meine Mutter ist nicht einfach an Krebs gestorben, sondern wurde von ihrem Arzt umgebracht.«
Langsam nickend begann der Polizist, sich einige Stichpunkte zu notieren. Immerhin waren ihm Fälle dieser Art schon zu bekannt, um sie als Trauergewinsel irgendwelcher Hinterbliebener abzutun.
»Erzählen Sie mir bitte mehr davon, warum der Arzt Ihrer Mutter an deren Tod schuld haben soll.«
Valeria ließ sich das nicht zwei Mal sagen. »Es fing alles damit an, dass nichts gegen den Brustkrebs meiner Mutter zu helfen schien. Sie war bei so vielen Ärzten, die ihr Bestes gegeben haben, doch es wurde eigentlich nur schlimmer anstatt besser. Meine Mutter hat da vermutlich den Glauben in die Medizin verloren, sonst kann ich mir nicht erklären, warum sie auf diesen Spinner hereingefallen ist.«
»Spinner?«, unterbrach der Polizist die junge Frau in der Hoffnung, nun den Namen des Verdächtigen zu erfahren.
Die Zeugin nickte. »Steitz heißt er. Doktor Alexander Steitz. Obwohl ich mir sicher bin, dass er sich selbst nur Doktor nennt, um seinen Schwachsinn als Wissenschaft verkaufen zu können.«
Der Polizist nickte und schrieb weiterhin alles auf, was sein Gegenüber sagte. Er hatte nun alles, was er vorläufig brauchte, um eine Anzeige schreiben zu können. Nur fehlten noch die Beweise, die diese zu etwas Handfestem machen würden.
»Ich weiß gar nicht, wie meine Mutter diesen Typen gefunden hat. Vermutlich übers Internet. Auf jeden Fall war er immer wieder bei ihr Zuhause, hat sie mit seinen nutzlosen Mittelchen behandelt und ihr immer wieder eingeredet, was andere Ärzte für Lügner wären und dass nur er ihr helfen könnte. Und meine Mutter hat ihm geglaubt. Sie war wirklich verzweifelt und hatte Angst vor dem Tod. Doch Steitz hat meiner Mutter nicht geholfen. Er hat sie nur ausgebeutet und ihr beim Sterben zugesehen. Irgendwann war er der Einzige, den sie noch an sich heranließ. Alle anderen hat sie abgeblockt, als wären wir pures Gift für sie. Ich weiß nicht, was dieser Mann mit meiner Mutter gemacht hat, aber er hat etwas mit ihrem Tod zu tun. Der Krebs hätte besiegt werden können. Das haben die richtigen Ärzte damals gesagt. Aber meine Mutter hat lieber an den Schwachsinn geglaubt, den ihr irgendein dahergelaufener Irrer eingeredet hat.«
Valeria ballte ihre Hände zu Fäusten und versuchte sich zu beruhigen. Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war: Auf Steitz, der eine Krebskranke fahrlässig getötet hatte, oder auf ihre Mutter, die das mit sich hatte machen lassen.
Der Polizist vervollständigte unterdessen seine Notizen und schaute dann sein Gegenüber eindringlich an. »Das sind wirklich ernste Vorwürfe, die Sie hier gegen Herrn Steitz erheben. Und so sehr ich Ihnen auch glaube, dass dieser Mann in den vermeidbaren Tod Ihrer Mutter verstrickt war, gibt es dennoch keine Ermittlungsgrundlage, wenn Sie mir nicht zumindest das Medikament nennen können, mit dem Ihre Mutter behandelt wurde. Es tut mir wirklich leid, aber da wir auch nicht sagen können, ob es sich hier um einen Einzelfall oder eine Serie an verdächtigen Vorfällen handelt, weil dieser Mann bisher noch nicht polizeilich bekannt ist, sind mir die Hände gebunden.«
Valeria wollte nicht glauben, was sie da soeben gehört hatte. »Sie haben doch nicht einmal nachgeschaut, ob es sich hier vielleicht um einen Serientäter handelt«, warf sie dem Beamten fassungslos vor. »Wenn ich Ihre Arbeit vorher erledigen soll, bevor Sie hier tätig werden, sagen Sie mir das doch gleich. Dann hätte ich meine Zeit nicht verschwenden müssen.«
Mit diesen Worten stand die junge Frau auf und verschwand auf dem Verhörraum, ohne dass der Polizist sie davon abhalten konnte. Noch beim Hinausgehen schwor Valeria sich, diesen Verbrecher, den scheinbar sogar die Polizei zu decken versuchte, hinter Gitter zu bringen, koste es was es wolle.