Prompt 52: Sandkastenliebe
Alles hatte mit einem einer Puppe angefangen. Eigentlich war nichts Besonderes an ihr gewesen – sie hatte tiefschwarze Knopfaugen, war ganz aus Stoff und hatte schon die ersten Spuren von zu viel kindlicher Liebe an sich. Das rote Kleid war verdreckt, weil sich ihr Besitzer weigerte, dieses von seiner Mutter waschen zu lassen und ein paar Narben zogen sich hier und da durch die helle Stoffhaut, wo diese bereits aufgerissen war.
Ihr Name war Mona. Woher dieser Name kam, wusste Leon nicht, doch er passte einfach zu seiner Puppe, die er seit dem Tag, an dem er sie von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, nie wieder aus den Augen gelassen hatte. Im Gegensatz zu seinem Vater, der kurz darauf aus seinem Leben verschwand, obwohl er es gar nicht geplant hatte. Nur Mona war von ihm geblieben. Diese Puppe war alles, was Leon davor bewahrte, seinen Vater zu vergessen, von dem seine Mutter nur noch selten redete, obwohl der Junge wusste, dass sie das Grab ihres Mannes mindestens einmal pro Woche besuchte, um die Blumen darauf zu erneuern.
Mona war auch Leons einzige Freundin auf der Welt. Sie lachte ihn nicht dafür aus, dass er als Junge gern mit Puppen spielte, wie es seine Mitschüler taten. Sie ging nicht einfach fort, wie sein Vater. Und sie war nicht so in sich selbst versunken und dunkel wie seine Mutter, die kaum noch zu leben schien. Mona war besser als das. Sie war immer da, wenn Leon sie brauchte, fand die richtigen Worte, ohne sprechen zu können und war warm, ohne ein schlagendes Herz zu besitzen.
Der Junge liebte seine Puppe mehr als alles andere auf der Welt. Sie war die Erinnerung, die er vergaß und der Grundsatz seines Vaters, den er nie selbst zu hören bekommen hatte. Doch wen kümmerte das? Ein Kind kümmerte sich nicht darum, was hinter einem Geschenk stand, sondern um das Geschenk selbst. Mona nahm Leons Leben ein, genauso wie er ihres.
Zumindest bis zu dem Tag, an dem die Puppe starb.
Es war ein sonniger Tag, obwohl für Leon an diesem Tag keine Sonne existierte. Dafür hatte es nicht einmal einen Grund gegeben, er war einfach allein mit sich und vermisste den Beistand seiner einzigen Freundin, die den ganzen Tag über in seinem Rucksack hatte bleiben müssen. Nicht nur war Mona über die Jahre alt geworden, womit Leon sich Sorgen um sie machte, auch schämte er sich allmählich dafür, dass Mona die einzige Konstante in seinem Leben war. In seinem Alter sollte man kein Spielzeug mehr haben. Seine Klassenkameraden hielten ihn für einen Sonderling und ließen ihn auch wissen, dass sie dies taten. Und Leon wollte nicht, dass etwas geschah, nur weil die Leute um ihn herum nicht verstanden, wie viel Mona ihm bedeutete.
Es war jedoch kein Wunder, dass der Junge auf seinem Heimweg von seinen Mitschülern abgefangen wurde. Dies geschah fast täglich und gehörte zu der traurigen Routine, mit der sich Leon immer wieder konfrontiert sah.
Doch an diesem Tag war etwas anders. Sonst prügelte man nur auf den Jungen ein und ließ ihn dann in seinem Elend zurück, ohne sich weiter darum zu scheren, was für Schmerzen man ihm da zugefügt hatte. An diesem Tag aber schnappte sich einer der Jungen Leons Rucksack und entleerte dessen Inhalt auf den Boden. Alles, was er besaß, landete dort auf dem staubigen Boden. Seine Schulhefte, seine Federtasche, die hellgrüne Lunchbox und schließlich auch Mona, die auf dem Haufen saß wie eine Prinzessin auf ihrem Thron.
Es gab keine Worte des Spottes, keine weiteren Schläge, dafür, dass Leon seine Puppe vor den anderen den ganzen Tag über versteckt hatte. Nein, das alles reichte nicht, um die Meute an diesem Tag zufriedenzustellen. Es musste mehr her. Etwas, was diesen seltsamen Jungen, der lieber mit seiner Puppe als anderen redete, wieder normal machte. Etwas, was ihm eine Lehre war. Etwas, was Leon wirklich wehtun konnte.
Fast schon angewidert nahm Vincent, der Anführer des Schlägertrupps, die Puppe in die Hand und betrachtete sie für einen Moment, als wüsste er nicht, was er damit eigentlich tun sollte. Dann folterte er sie. Vor Leons Augen riss der Junge Mona jedes Körperteil einzeln raus. Ihre Arme und Beine fielen dumpf zu Boden. Statt Blut quoll weiße Watte aus den Wunden. Die Tränen konnte Leon nicht zurückhalten. Wie auch, wenn gerade seine beste Freundin starb, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können?
Irgendwann ließ die Meute den Jungen allein mit Monas Leiche. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe in diesem Moment. Alles war dahin. Zusammen mit Mona war auch Leon gestorben, dessen Seele in Flammen stand und der sich in diesem Moment wünschte, den Schmerz einfach abstellen zu können.
Es war richtig, wenn man meinte, dass eine Liebe von klein auf keinen Bestand hatte. Vor allem deshalb, weil die Welt eine solche erst gar nicht ernst nehmen würde.