Prompt 108: Wohin gehörst du?
Wie bin ich hier gelandet?
Was war die Frage, die dem jungen Mann schon seit Stunden im Kopf herumschwirrte. Der Tag neigte sich dem Ende zu und eigentlich sollte der Obdachlose damit beschäftigt sein, sich einen halbwegs sicheren Schlafplatz zu suchen. Stattdessen taumelte der junge Mann regelrecht über den Bürgersteig und sinnierte darüber, wie wenig Hoffnung er doch noch im Leben hatte.
Marcel war der geborene Versager. Von Anfang an hatte er nirgendwo wirklich reingepasst und immer wirkte es, als würde der Junge in seiner ganz eigenen Welt leben, um die echte nicht ertragen zu müssen. So hörten vor allem seine Eltern schon früh auf, Erwartungen an ihn zu stellen. Denn Mutter und Vater wussten ab einem gewissen Zeitpunkt, dass Marcel diesen Erwartungen nicht würde entsprechen können. Lieber konzentrierte man sich auf die jüngere Schwester, die so viel besser in diese schnelle Welt passte. Diese hatte Marcel schon abgehängt, bevor überhaupt die Schule begann.
Weil niemand dem Jungen einen Grund gab, sich in irgendeiner Weise aus seiner Starre zu befreien, ließ Marcel einfach an sich vorbeiziehen. Dabei sah er nicht, wie er immer weiter hinter allen anderen zurückfiel, bis der Abstand zur Realität zu groß wurde, um ihn jemals wieder aufholen zu können.
Mit nur fünfzehn Jahren gab Marcel sich endgültig auf. Drogen waren nun seine Zuflucht. Er wollte die Welt um ihn herum nur noch ausblenden. Was mit Gras begann, wurde zu einer Sucht nach allem, was den Jungen seine Unzulänglichkeiten vergessen lassen konnte. Für das Gefühl, nicht vollkommen hoffnungslos und verloren zu sein verkaufte er seine sogar Würde, wenn er seinen Körper feilbot, um schnelles Geld zu machen. Auch stahl Marcel für die Sucht, die nie befriedigt werden konnte. Dem Jungen war alles egal, weil sich seine ganze Welt nur noch um dieses verdammte Hochgefühl und das Erreichen dessen drehte.
Erst als Marcel beinahe jemanden für seine geliebten Drogen umbrachte und dafür in den Jugendknast kam, hörte all der Wahnsinn mit dem Entzug auf.
Doch auch das Gefängnis konnte die Perspektivlosigkeit nicht vertreiben. Das Leben war weiterhin wertlos und auch wenn der Junge nun clean war und sich schwor, es bis in alle Ewigkeiten zu bleiben, änderte sich nichts am Abstand zur echten Welt. Anstatt sich einen Job zu suchen und neu anzufangen, freundete sich Marcel lieber mit der Straße an. Er hatte einfach nicht das Gefühl, eine zweite Chance verdient zu haben. Der junge Mann wollte nur noch in Ruhe gelassen werden und nie wieder in den Knast zurückkehren, wo zwar sicher vor seiner Sucht, aber nicht vor der Willkür anderer Menschen war.
Und hier war der Marcel nun, der sich nur noch selbst bemitleidete und alle Hoffnung auf Besserung aufgegeben hatte. Die Welt hatte ihn endlich vergessen können und er hatte sich mittlerweile davon überzeugt, ein zu schlechter Mensch zu sein, um ein Leben wie jedes andere zu verdienen.