Prompt 122: Vogelscheuche
Wenn ich doch nur auch ein Mensch sein könnte.
Dieser elende Gedanke haftete der Vogelscheuche seit dem Tag an, an dem der Bauer sie auf seinem Feld platziert hatte. Die Knopfaugen waren seitdem pausenlos weit geöffnet und sahen immer den gleichen Ausschnitt der Welt, der bereits nach ein paar Stunden sehr eintönig geworden war. Nichts war dort außer blanker Erde und vielleicht hin und wieder ein paar Vögeln, die auf die versteckten Leckereien im Boden lauerten.
Diese immer gleiche Aussicht machte es der Vogelscheuche umso schwerer, auf andere Gedanken zu kommen. Immer, wenn ein Mitglied der Bauernfamilie in Sicht kam, bekam sie Sehnsucht danach, zu ihnen zu laufen und von ihnen zu lernen, wie es war, ein Mensch zu sein. Nichts Schöneres konnte sich die Vogelscheuche vorstellen als sich frei bewegen und tun und lassen zu können was man wollte. Es musste toll sein, wenn einem die Welt offen stand.
Doch ohne Beine war es schwierig zu gehen. Also blieb der dicke Holzstab, an den die Vogelscheuche gebunden war, an Ort und Stelle stecken und hielt den armen Feldhüter gegen seinen Willen gefangen.
Je länger die Vogelscheuche auf dem Feld war, den Weizen wachsen sah und brav ihre Aufgabe erledigte, desto mehr stellte sie sich vor, wie es denn wäre, ein echter Mensch zu sein. Welchen Namen hätten die Eltern gegeben? Wie musste es sich anfühlen laufen, springen oder liegen zu können? Wie war es zu sprechen und von anderen verstanden zu werden? Die Welt hinter dem Feld musste riesig sein. Und es schmerzte die Vogelscheuche sehr, dass sie nicht einmal sehen mehr sehen konnte, wo ihr Feld aufhörte. Dafür war das Jahr schon zu weit fortgeschritten.
Erst als die Ernte vorbei und die Erde eisig kalt war, kam ihr jemand zur Hilfe. Es gab nichts mehr zu hüten und doch verirrte sich eine einzelne Krähe auf nun von Schnee bedeckte Feld. Ein paar Mal drehte das Federtier seine Kreise am Himmel, ehe es zielsicher die Schulter des einsamen Feldhüters ansteuerte.
»Was stehst du denn hier immer noch rum?«, wunderte sich die Krähe. »Den Schnee werden wir schon nicht fressen, keine Sorge.«
Gern hätte die Vogelscheuche erwidert, dass sie nur noch hier war, weil alle sie vergessen hatten. Die Feldbesitzer hatten das gekommen, was sie gewollt hatten und waren seitdem verschwunden, ohne ihre unermüdliche Helferin mitzunehmen. Es war ungerecht, doch ohne Mund ließ es sich nicht sprechen. Also schaute die Vogelscheuche nur stur geradeaus, weil die auch den Kopf nicht wenden konnte.
»Du musst einsam sein. Wenn du schon ihre Kleidung trägst, sollten sie dich doch auch in ihr Haus nehmen. Menschen sind schon seltsam.«
Der Krähe schien es nichts auszumachen Selbstgespräch zu führen. Dem Feldhüter war es nur recht. Ein Monolog wie dieser tötete zumindest kurzfristig die Eintönigkeit des Winters ab.
»Schade schade«, setzte das Federvieh wieder an. »Dabei scheinst du jemand zu sein, der irgendeinen Traum hat. Das weiß ich, auch wenn du mir nicht sagen kannst, wovon du träumst. Aber keine Sorge. Du musst nur immer weiter hoffen. Dann kann es sein, dass dein Traum irgendwann in Erfüllung geht.«
Mit diesen Worten erhob sich die Krähe wieder in die Luft und flog hinaus in die große weite Welt, die die Vogelscheuche auch so gern sehen würde. Also blieb dieser nichts anderes übrig, als zu tun, was ihr Besucher geraten hatte und hoffte darauf, irgendwann ein Mensch werden zu dürfen.
Kein Tag verging, an dem der Feldhüter nicht stumm seinen Wunsch aussprach. Hin und wieder versuchte die Vogelscheuche sogar den Wind damit zu beauftragen jemanden zu finden, der diesem Funken an Hoffnung Gehör schenken könnte. Doch auch der Wind konnte nur ausgesprochene Worte weitertragen. So schwieg der Träumende, obwohl er doch am liebsten geschrien hätte.
Eine Ewigkeit des Wartens zog ins Land, bis der Wunsch der Vogelscheuche endlich erhört wurde. Wieder war sie vollkommen allein, als ein Fremder durch den Schnee auf die Wartende zu gestapft kam.
»Sei gegrüßt, mein Freund. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, grüßte der Mann, als müsste die Vogelscheuche ihn kennen. Sie starrte nur stumm ins Leere und wartete darauf, dass der Besucher weitersprach.
»Deine Hoffnung hat mich hergeführt. Sie war so laut, dass ich sie auf meinen Reisen gar nicht hätte überhören können. Wer so hartnäckig ist, hat es verdient, seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt zu bekommen.«
Damit legte der Schwarzgekleidete je eine seiner behandschuhten Hände auf die Schultern der Vogelscheuche und schloss dann die Augen, als würde er sich stark konzentrieren müssen.
Im nächsten Moment zuckte ein Blitz durch den Körper der Vogelscheuche. Zumindest schien das Gefühl vergleichbar mit den gleißenden Strömen, die bei Gewitter über den Himmel flossen. Danach war alles wie immer. Verwirrter als jemals zuvor stand der Feldhüter da und hätte den Besucher am liebsten gefragt, was er soeben getan hatte.
Dieser schien die Verwunderung zu spüren und schenkte der Vogelscheuche ein entschuldigendes Lächeln. »Leider übersteigt es meine Macht, dich zu einem Menschen zu machen. Wenn ich das versuchen würde, wäre dein Ende nah, weil dir nie jemand Organe geschenkt hat und Stroh einen nicht am Leben erhält. Doch zumindest konnte ich dir echte Träume schenken. Versuche einmal die Augen zu schließen, wenn die Nacht hereinbricht. Dann wirst du endlich wissen, wie es hinter diesem Feld aussieht.«
Die Vogelscheuche verstand nicht, was der Mann meinte, doch hatte auch keine Chance nachzufragen. Nicht nur, weil sie weiterhin nicht sprechen konnte, sondern auch, weil der Fremde einfach vor ihren Augen verschwand. Noch nie hatte das ein Mensch zuvor getan und der Feldhüter war sich eigentlich auch sicher, dass das niemand konnte.
Jetzt, wo er wieder allein war, blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten, ob sich die Versprechungen des seltsamen Besuchers als wahr herausstellen würden.
Als der Himmel immer dunkler wurde, schloss die Vogelscheuche die Knopfaugen, wie es ihr befohlen worden war. Es geschah nichts, außer, dass plötzlich alles noch eintöniger war. Sie wunderte sich, was das bringen sollte und öffnete nach kurzer Zeit wieder die Augen. Nur dass der Feldhüter plötzlich nicht mehr dort stand, wo er hätte stehen sollen und auch nicht mehr das Gefühl hatte, nur ein Menschenimitat aus Stroh und Stoff zu sein. Nein, die Vogelscheuche stand sich plötzlich selbst gegenüber. Irgendetwas pochte laut und immer wieder wurde ganz kurz die Welt dunkel und dann wieder hell, ohne dass die Vogelscheuche es kontrollieren konnte.
Und in dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben träumte. Nicht nur das - sie war in diesem Traum ein Mensch, der echt und wahrhaftig atmete, blinzelte und sich vor allem von ganz allein bewegte. Sie konnte es zunächst nicht fassen. Erst als sie sich an ihren ersten Schritten versuchte, verstand sie, was der Fremde ihr für ein Geschenk gemacht hatte. Auch wenn die Tage weiterhin einsam und langweilig sein würden, die Nächte waren das genaue Gegenteil. Im Traum war die Vogelscheuche ein Mensch, der tun und lassen konnte, was er wollte.
Was sie wohl alles erleben würde? Das Leben als Mensch musste aufregend sein. Nein, es würde aufregend werden. Dafür wurde die Vogelscheuche schon sorgen.
So konnte sie gar nicht anders als selig zu lächeln, während sie endlich in die Welt hinter dem Feld hinauszog, die ihr so lange verborgen geblieben war.