Prompt 115: Regentag
Regentage waren wirklich seltsam. Warum sonst sollte Jakob genau heute motiviert sein, den vermüllten Dachboden aufzuräumen? Der junge Mann hatte sich das schon so lange vorgenommen und doch immer aufgeschoben. Heute aber, wo sich die Stunden zäh wie Kaugummi zogen und er nichts besseres zu tun hatte, war alles andere.
Langsam, weil sich doch irgendwas in ihm dagegen sträubte, die schmale Treppe nach oben zu steigen, kam Jakob an dem Ort an, den er seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Seit er seine alte Wohnung in der Stadt gegen dieses alte Landhaus eingetauscht hatte, als es mit der Selbstständigkeit nicht klappte, hatte der Dunkelhaarige so viel zu tun, dass gar keine Zeit für Erkundungstouren durch alte Erinnerungen blieb. Aber jetzt, als er das Licht einschaltete und einen ersten Blick auf das Chaos warf, das er selbst bei seinem Einzug angerichtet hatte, fühlte Jakob sich regelrecht gezwungen, endlich aufzuräumen.
Nach und nach wühlte er sich durch die Kartons und Müllsäcke. Zwischen alten Klamotten, irgendwelchem Krimskrams, den seine Exfreundinnen hin und wieder bei ihm zurückgelassen hatten und anderen Kuriositäten entdeckte der junge Mann schließlich eine kleine Box, die sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Von außen betrachtet war nichts Besonderes daran, doch das Innere, ein kleiner silberner Schlüssel, erinnerte Jakob an das, was seine Mutter sagte, als sie ihm dieses seltsame Geschenk überreicht hatte.
Das Zimmer, zu dem dieser Schlüssel gehört, darf nur von dem geöffnet werden, der bereit für dessen Inneren ist.
Damals hatte der junge Mann nicht verstanden, was das bedeuten sollte. Sein Vater war so krank gewesen, dass es eigentlich keine Zeit für Geschenke gegeben. Doch jetzt, wo er eben jenen Schlüssel in den Händen hielt, hatte Jakob das Gefühl, bereit zu sein. Was auch immer hinter der Tür lag, die er als Kind nie hatte öffnen dürfen und von der seine Eltern immer gesagt hatten, dass sie das Familiengeheimnis beherbergte.
Das Dachbodenchaos war vollkommen vergessen. Der Schlüssel und das, was er öffnen würde, nahm nun alles in Jakobs Kopf ein. Es fühlte sich an, als wäre es die Aufgabe des Dunkelhaarigen gewesen, auf dieses verbotene Zimmer aufzupassen. Aber er hatte es nicht getan. Weil es Wichtigeres gegeben hatte. Zumindest schien es so. Doch war ein Familiengeheimnis nicht etwas, was über allem stand?
Jakob fand keine Antwort auf diese Frage. Selbst als er schließlich an seinem Elternhaus ankam, das er viel zu lange schon nicht mehr von Innen gesehen hatte. Über die Jahre, die er den Schlüssel vergessen hatte, hatte sich auch die Familie auseinandergelebt. Die Krankheit des Vaters verschlimmerte nur die Anspannung, die es immer schon im Hause Niedermeier gegeben hatte. Je älter die Eltern wurden, desto weniger wollten sie sich aufdrängen. Weil sie Jakob seine Freiheiten lassen wollten, anstatt ihn auch noch ans Haus zu binden. Eleanor hatte ihren Sohn regelrecht aus dem Haus gejagt, als ein Streit über die Pflege des Vaters entbrach.
Nun stand der junge Mann vor ebenjener Tür, die ihm beim letzten Mal vor der Nase zugeschlagen worden war und zögerte. Es kostete ihn einiges an Überwindung zu klopfen. Niemand antwortete. Es hätte das Zeichen sein sollen, dass Jakob wieder gehen sollte. Doch er konnte nicht. Der Schlüssel wollte endlich seinen Zweck erfüllen.
So hoffte der Dunkelhaarige, dass niemand ihn bemerken würde und trat ein. Mutter hatte wieder einmal vergessen, die Haustür abzuschließen. Es war immer der Vater gewesen, der auf Ordnung geachtet hatte. Jetzt musste hier ebenso viel Chaos wie auf Jakobs Dachboden herrschen.
Das Haus war wie ausgestorben. Ohne Umwege bahnte sich der junge Mann den Weg zu dem verbotenen Zimmer. Erinnerungen strömten beim Anblick der Tür auf ihn ein, doch er schob sie beiseite. Es war keine Zeit dafür. Das Geheimnis musste endlich gelüftet werden.
Ein Zettel war an die Tür genagelt wurden. Er konnte noch nicht allzu lang dort hängen, denn Jakob konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals gesehen zu haben. Die Nachricht trug die deutliche Handschrift seines Vaters. Etwas sagte dem Dunkelhaarigen, dass er diese lesen sollte, bevor er den Schlüssel verwendete. Deshalb riss Jakob den Zettel von der Tür und begann zu lesen.
Nicht alles, was du da drin sehen wirst, muss die Wahrheit sein, stand darin geschrieben. Niemand weiß, wer die Briefe schreibt. Aber wer auch immer es tut, weiß, wer als nächstes diesen Raum betreten wird. Der Brief ist für dich. Jakob. Man wird dir erklären, was du von nun an zu tun hast. Jeder Brief ist anders. Unsere Familie wurde vor langer Zeit damit beauftragt, diese Nachrichten vor der Welt zu verstecken. Vor ein paar hundert Jahren haben sie für genug Unruhe gesorgt. Jetzt liegt es an dir, dieses Geheimnis zu bewahren.
Jakob brauchte eine Weile, um das Gelesene zu verarbeiten. Für eine Weile stand er einfach nur da, starrte die Nachricht an und versuchte die Bruchstücke in seinem Kopf zu einem Bild zusammenzufügen. Kein Wunder, dass die Eltern nicht gewollt hatten, dass ihr einziger Sohn dieses Zimmer betrat. Doch nun hatte Jakob keine andere Wahl.
Der Raum war ebenso leer wie der Rest des Hauses. Bis auf einen kleinen Holztisch in der Mitte, auf dem ein Briefumschlag lag. Es gab keine Fenster, dennoch schimmerte der Umschlag silbern. Es fühlte sich an, als hätte dieser Brief ein Verfallsdatum. Wie ein Wahnsinniger stürzte der junge Mann zum Schreibtisch und beeilte sich, den schlichten, weißen Zettel aus dem Umschlag zu nehmen. Die Handschrift war sauber doch so altmodisch, dass Jakob ein paar Versuche brauchte, um die Worte entziffern zu können.
Begierig las er die Zeilen, die da geschrieben standen. Doch selbst nach mehrmaligem Lesen konnte er nicht glauben, was ihm da offenbart wurde.