Prompt 112: Kastanien
Das Erste, was die kleine Kastanie wirklich spürte, war der Aufprall auf dem Boden, als der Wind sie vom Mutterbaum trennte. Plötzlich wirkte alles so groß und beinahe schon furchteinflößend, was zuvor in der Höhe noch ganz normal gewirkt hatte. Die Welt war nun eine ganz andere. Doch davon ließ sich die Kastanie nicht entmutigen.
Vor allem nicht, weil hier unten alles viel geschäftiger war. Während die kleine Stachelfrucht begeistert durch die Haufen toten Laubs stob und die brüchigen Blätter unter Stichen zerbrechen ließ, kamen Besucher, die der Kastanie von der Welt da draußen berichteten. Während Käfer ebenfalls dachten, dass sie viel zu groß und bedrohlich war, sahen Vögel alles ganz klein und hatten das Gefühl, mit einem Windstoß den ganzen Planeten umrunden zu können.
Am liebsten sprach die Kastanie jedoch mit dem Igel, der auch Stacheln hatte und sogar eine kleine Weile mit der Stachelfrucht im Blätterhaufen spielte, bis er weiterzog. Gewarnt hatte der Igel vor allem vor den Menschen, von denen sich die Kastanie am besten fernhalten sollte. Daran wollte sie sich halten. Auch wenn sie nicht ganz verstand, was die hektischen Zweibeiner, die sie vom Kastanienbaum aus immer wieder beobachtet hatte, ihr schon antun sollte.
Doch die Welt änderte sich erneut, als beim Spielen die Stachelhülle brach. Plötzlich kam sich die Kastanie nackt und noch kleiner als ohnehin schon vor. Die Angst vor dieser viel zu großen Welt setzte wieder ein und so versteckte sich die Kastanie so gut sie nur konnte, um sich weiterhin an die Warnung des Igels halten zu können.
Am Ende half das Versteckspiel nichts. Ein Kind fand die Kastanie unter einer Wurzel und nahm sie mit nach Hause, um sie auf ein Regal zu stellen. Auch wenn nun niemand mehr vorbeikam, um dem kleinen Laubbaumfrucht von dem zu erzählen, was sie nicht kannte, und ihr die Welt da draußen trotz all der Gefahren und Angst fehlte, fiel der Kastanie auf, dass der Igel Unrecht gehabt hatte. Sie fühlte sich wohl in dem warmen Raum, der zwar immer gleich war, doch zumindest hatte die Kastanie nun ihre ganz eigene Welt, die fast besser war als die, in der sie nur Laubhaufen zum Entdecken und spielen hatte.