Prompt 4: Mondscheinserenade
Im Dunkeln sah er ihn dort im Licht des Mondes stehen. Die Nacht ließ den jungen Mann bleich und transparent wirken und doch schöner und vollkommener, als es je ein Mensch auf Erden gewesen war. Woher er kam und wer er war, wusste niemand, nur dass der Jüngling nie sprach und auch keine Sprache kannte, die die Menschen in der Gemeinde verstanden hätten. Generell wollte niemand etwas von diesem sonderbaren Fremden gewusst haben, egal wie sehr sein heimlicher Beobachter sich danach verzehrte, mehr über diesen Jüngling mit der weißen Haut und den hellen Haaren in Erfahrung zu bringen.
So begnügte man sich damit, jede Nacht zu warten, bis der Mond hoch am Himmel stand und sich dann immer an denselben Ort – einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes, die vor allem in Vollmondnächten in fahles und schummriges Licht getaucht wurde und somit dem heimlichen Beobachter die beste Aussicht bot – einzufinden, um dem Jungen zu lauschen.
Mitten auf der Lichtung stand der blonde Knabe dann, als wollte er sich seiner unsichtbaren Hörerschaft offenbaren, und sang aus voller Kehle in einer Sprache, die sein einziger Hörer nicht verstand und auch noch nie in seinem Leben zuvor gehört hatte. Doch trotz der des unbekannten Textes rührten die immer gleichen Serenaden des Jünglings seinen Verehrer zu Tränen, so schön war die Stimme des Mondscheinsängers und so viel schwang in den schaurigen Gesängen mit, dass der Mann gar nicht begreifen konnte, was er da eigentlich hörte. Diese Stimme war so voll und klar, dass es nicht einmal einer Melodie gebrauchte, um die gesungenen Worte in eine Symphonie aus tausend verschiedenen Engelsstimmen zu verwandeln, die von den Bäumen widerhallte, die wiederum stumm Beifall klatschten, ebenso wie der Mann in des Büschen es wollte, doch es jedes Mal bleiben ließ, um dieses göttliche Geschöpf dort auf der Lichtung nicht zu verschrecken.
So oft schon hatte sich der Beobachter gefragt, wer nun dieser seltsame Jüngling wirklich war und doch kam er immer nur zu dem Schluss, dass er sich entweder einem gefallenen Engel oder dem Teufel höchstpersönlich gegenübersah, der danach lechzte, ihn mit dieser geisterhaften Schönheit und dieser so wohltuenden Stimme zur Sünde zu verführen. Und das gelang ihm, so wie der Mann in den Büschen danach gierte, noch mehr von dieser Perfektion zu sehen, noch mehr von diesen göttlichen Klängen zu hören. So vernarrt war er in diesen Mondscheinsänger, der ihm auch am Tage nicht mehr aus dem Kopf ging.
Doch dieser war ein Geschöpf der Nacht, und das auch nur, wenn der Mond schien, denn in Neumondnächten wartete sein Verehrer vergebens auf den blonden Engel ohne Flügel.
Auch verschwand der Junge immer wieder spurlos, wenn sein Zuhörer sich ihm klammheimlich nähern wollte, egal wie geschickt er sich dabei anstellte. Er sah nur einen Moment lang nicht hin, um nicht auf einen morschen Zweig oder ähnliches zu treten, was ihn verraten hätte, und schon war der Junge wie vom Erdboden verschluckt.
So fand der Mann sich irgendwann damit ab, diesen Jungen nur aus der Ferne lieben zu können, von dem er sich nicht einmal sicher sein konnte, ob er nicht nur ein Abbild seiner sündigen Gedanken war.