Prompt 15: Spieglein, Spieglein an der Wand
Leise betrat der junge Mann den Raum, als wäre er am liebsten unsichtbar. An seiner Körperhaltung sah man direkt, wie wenig er sich auf das Nachfolgende einlassen wollte. Er hasste es, hier sein zu müssen. Dieser Raum war kalt und hatte ihm noch nie etwas Gutes gebracht, so oft er auch hier gewesen war.
Sein Gegenüber hatte wieder dieses falsche Lächeln aufgesetzt, wie jedes Mal, wenn der Andere sein Reich betrat. Alles an ihm wirkte schmierig – von seinem Grinsen bis über zu seinen öligen und ungepflegten Haaren. Wie sehr sich dieses Monster doch über die Zeit hinweg hatte gehen lassen. An Ausstrahlung und Autorität hatte es jedoch nicht verloren. Der Dunkelhaarige wirkte genauso furchteinflößend wie eh und je, daran würde sich wohl auch nie etwas ändern.
»So sehen wir uns wieder«, schnurrte die Raubkatze, was dem Gast in diesen vier Wänden einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagen ließ. Die Stimme dieses Teufels hallte rau wie der Winter und doch angenehm wie eine Frühlingsbrise im Kopf des jungen Mannes wider. Sie war ihm so vertraut, aber er könnte sie nicht mehr verabscheuen. Am liebsten würde er dem Monster sich gegenüber die Kehle aufschlitzen und ihm die Zunge rausschneiden, um nie wieder auch nur ein Wort aus dessen Munde hören zu müssen. Doch gleichzeitig war diese Stimme die einzige Konstante in seinem Leben. Wenn man von der Gefahr absah, in die sich der Mann begab, wenn er diesen Raum hier betrat.
»Scheint so«, antwortete der Gast aus diesem Grund nur und starrte seinem Gegenüber fest in die toten Augen, die früher mal vor Leben geradezu übergequollen waren.
»Also. Was führt dich schon wieder zu mir?«, grinste die Raubkatze und schien zufrieden mit sich, dass dieser Wicht wieder angekrochen kam. Der Löwe hatte die absolute Kontrolle über diesen Mann ihm gegenüber, der immer noch glaubte, gegen ihn bestehen zu können. Die Raubkatze wusste es besser und fand den Gedanken eher amüsant, dass dieser Idiot echt dachte, dass er stark genug war, ihr zu widerstehen.
Der Gast währenddessen raffte sich dazu auf, endlich das auszusprechen, was ihm schon seit Ewigkeiten auf der Seele brannte. »Ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Ich ertrage das alles nicht mehr. Ich habe mich viel zu lange auf dich eingelassen. Genug ist genug.«
Das Grinsen der Raubkatze wurde nur noch breiter. »Ich soll dich in Ruhe lassen? Du suchst mich doch ständig auf. Du weißt nämlich genau, dass ich dein einziger Ausweg bin. Du brauchst einen Sündenbock, gib es schon zu, Erin. Wir hängen beide in der Sache mit drin. Nur wir wissen, was mit deinem Bruder damals wirklich geschehen ist.
Du hast Addy bei dir aufgenommen, aber er war dir auf Dauer zu lästig. Was hat deine Mutter auch diesen Autisten bei dir abladen müssen, nur weil sie selbst keine Kraft mehr dafür hatte? Du fandest das ungerecht und hast es nicht mehr ausgehalten. Die Geschichte kennen wir doch beide zur Genüge.«
Erin spannte sich an. »Du hast mich dazu gezwungen. Ich wollte das nicht. Er war mein Bruder, verdammt.«
»Rede dir das nur ein, Kleiner. Er musste weg, das wissen wir beide. Addy hat dein Leben ruiniert, solange du denken kannst. Mami hatte eben keine Zeit für dich, wenn da immer dein behinderter Bruder war, der alle Aufmerksamkeit gefressen hat, ohne überhaupt zu merken, was er dir damit antat. Da war es nur fair, dass du ihm den kleinen Schubser verpasst hast. Der wäre diese steile Treppe früher oder später sowieso runtergefallen, da war das bisschen Hilfe auch kein Problem.«
Erin schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, um diese grauenvolle Stimme endlich ausblenden zu können. »Hör auf!«
Die Raubkatze lachte nur dunkel. »Versuch doch mich aufzuhalten. Wenn du mich verrätst, bist du genauso dran. Wir hängen hier zusammen drin. Es gibt nur noch uns beide, Erin. Ich bin alles, was du hast.«
So ungern es der junge Mann auch zugab, der Löwe hatte recht. Schon wieder hatte er diesen Kampf verloren, den er immer wieder führen musste, weil ihn dieses Monster einfach nicht in Ruhe ließ. Er musste einsehen, dass er keine Chance gegen diese Bestie hatte, egal was er auch versuchte.
Damit wandte Erin sich frustriert von seinem Spiegelbild ab und verließ das Badezimmer.