Als Ira in eine edlere Garderobe geschlüpft war und ihre Frisur besonders gut sass, schickte sie die Zofe hinaus. Sie musste nur noch mit der Schminke ihre Augen und Lippen betonen, stärker und dunkler als sonst. Vor hundert Jahren war das auch noch anders gewesen. Nur die Dämonen, die Wilden und die Günstigen gaben ihrem Gesicht Farbe, hiess es damals, und die Adeligen tupften ihr Gesicht noch etwas bleicher, um sich von dem Gesindel abzuheben. Nun aber waren es gerade die im Hochadel, die ihre Wangen röter machten, die Wimpern dunkler und Lippen voller. Möglichst stark und doch nicht zu grell, denn sie waren doch weder von der Priesterschaft noch käuflich. Und die magischen Völker, die jungen Drakar und die Mädchen drüben in Südosten reagierten mit besonders auffälligerer Farbe, schmierten sie sich dick um die Augen und auch auf die Nägel. Ira war eine Hexe und sie hatte sich entschieden, an diesem Abend auf ihre eigene Familientradition zu verzichten und stattdessen mit besonders niederen Drakar zu verkehren. Da war ihr ein Mittelmass davon ganz passend. Vor den Menschen trug sie gern helle Kleidung, irritierte sie und ihre Vorurteile, die sie so gern gegen dunkle Zauber hatten. An diesem Abend aber trug sie Violett und Schwarz.
Ira kontrollierte ihr Aussehen ein letztes Mal vor dem Spiegel. Dann betrat sie die kleine Kammer neben ihrem Gemach, die schon lange keine traditionelle Tür und keinen Schlüssel mehr besass. Ihr silberner Ring mit dem Siberit war es, der ihr den Zutritt durch die Mauer ermöglichte. Sie schnippte mit den Fingern und teils goldenes, teils purpurnes Licht erhellte die fensterlose Kammer, in der sie ihre meisten Rituale und Zauber vorbereitete. Sie benutzte Kerzen, obwohl sie an vielen Stellen im Haus die weissen, magisch glimmenden Lichter anbringen hatte lassen, die sonst kaum jemand im Land sich leisten und bedienen konnte. Es kam ihr passender vor so, denn nichts in diesem Raum sollte tatsächlich hell sein.
Vor dem Altar, den sie Ihrer Gottheit gewidmet hatte, ging Ira in die Knie. Sie sprach ein Gebet und einen Wunsch aus, während sie das Zückerchen in der kupfernen Schale platzierte. Dann wandte sie sich der Wandmalerei an der einen sonst leeren Stelle der Kammer zu. Sie stellte ein verziertes Tor zu einen Garten dar, zu einem Brunnen, an dem ein Rotkehlchen gemeinsam mit kleinen, bunten Vögeln badete, die sie nur aus Erzählungen kannte. Sie wollte die Malerei gerade berühren und damit das Portal öffnen, das sie direkt zu dem zweiten Anwesen ihrer Familie in Nava bringen würde, als sie neben sich eine Gestalt bemerkte.
„Oh, Ziff. Ich dachte nicht, dass du tatsächlich erscheinen würdest“, sagte Ira zufrieden.
„Du hast meinen Namen verwendet“, entgegnete der Karosyarra und seine Maske brachte seine Augen zum Leuchten.
Die Kerzen rundherum gaben auf einmal kaum mehr Licht ab. Ira stellte sich nahe vor Ziff. Obwohl er wohl eins der ältesten und mächtigsten Wesen war, die je in Vvasta erschienen waren, war sein Körper nicht mehr als zwei Finger breit grösser als sie und seine Stimme zart. Ira berührte seine Maske, die Ähnlichkeit mit dem Gesicht eines Tiers besass, bei genauem Hinschauen aber auch das Symbol darstellte, das ihm und der Stille gewidmet war. Ziff liess die Berührung tatsächlich zu, musterte sie ohne zu blinzeln. Sie liess ihre Hand tiefer wandern, bis zu dem Amulett an seinem Hals, dass mit seinen drei geschwungenen, schwarzen Linien und dem Punkt das Zeichen Yarrs präsentierte. Die dunkle Urmacht, die ihn erschaffen hatte und ihr ihre Kräfte gab. Ziff trug noch zwei andere Anhänger, die sehr eigen waren. Die zurückgelassenen Kunstwerke besonders grossen Köcherfliegen. Erst, als Ira auch diese berühren wollte, griff ihre Gottheit nach ihrer Hand und schob sie fein aber bestimmt zurück.
„Ich werde Finueraei Springloss besuchen und will dich dafür bei mir wissen“, wisperte Ira.
„Heute ist keine gute Nacht dafür“, antwortete Ziff. Er hätte in seiner eigenen Sprache zu ihr sprechen können und sie hätte es verstanden, hätte die alten, magischen Worte verkraftet. Er aber wählte Mittländisch. Es liess ihn beinahe sterblich, menschlich wirken.
„Natürlich“, sagte Ira. „Es ist die letzte Nacht des Jahres, die düstere Etappe vor einem neuen Zyklus. Du wirst dich mit deinen Brüdern in den tiefsten Ebenen Tarveas treffen.“
Ziff bewegte sich immer noch kaum und im Raum herrschte kein Luftzug. Dennoch bewegten sich die Säume seiner schwarzen Robe und das Ende seiner langen Kapuze. Stücke davon lösten sich auf, wurden zu violetten und schwarzen Schemen und krochen über den Stoff, ehe sie wieder eins mit ihm wurden.
„Du bist eine hohe Schemenhexe. Dir ist gestattet, für einen Teil der Zeremonie anwesend zu sein.“
Ira dachte an ihren ersten Besuch in den Tiefen, damals als sie den Pakt mit Ziff geschlossen, sich an ihn gebunden hatte. Sie hatte eine der tiefsten Ebenen des Weltensystems gesehen. Tenezina, das Reich der dunklen Gottheiten und das pure Gegenteil des von allen so angepriesenen Zzhas. Nie hatte sich Ira für die hellen Gottheiten interessiert, die ihnen doch so fern waren, nur über ihre Priester und in ihren grossen Tempeln überhaupt mit ihnen kommunizierten, wenn sie denn einen Menschen überhaupt dazu würdig sahen. Einst war Ira bei allen Zeremonien dabei gewesen. Jenen in Anwesenheit der Karosyarran, aber auch jenen unter den verschiedenen Hexen. Sie hatte alles wissen wollen, hatte lernen wollen. Das war lange her.
„Danke, aber ich habe meine eigenen Dinge zu erledigen.“
Ziff starrte sie an und es war in der Tat gänzlich still im Raum. Ira konnte nicht einmal ihren eigenen Atem hören. Dann schloss die Gottheit zum ersten Mal ihre Augen und wandte sich ab. Ira hätte Erleichterung spüren sollen. Stattdessen war da ein Stechen in ihrer Brust.
„Gewiss wird es eine äusserst … spannende Angelegenheit angesichts der momentanen Umstände in Gahlaria, angesichts des Heerführers und seines Schemens. Aber würde ich tatsächlich Teil der Spannung sein, oder nur einmal mehr in der Finsternis sitzen und ganz am Ende eurem Obersten bei seinem Segen lauschen, als ob er die von mir erwählte Gottheit wäre?“
„Der Heerführer und unsere Entscheidungen ihm gegenüber haben dich nicht zu stören.“
Ira lachte auf. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, aber sie versuchte nicht, die Reaktion tatsächlich zu unterdrücken.
„Mich nicht zu stören? Der Heerführer hat mein Heimatland in einen Krieg gezogen! Er lässt seinen Schemen in den Sirring strömen, der uns heilig ist und wenn überhaupt nur dir gehören sollte!“
„Mir gehört nichts in diesem Land“, sprach Ziff und Iras Nackenhaare stellten sich auf, als sie merkte, dass er nun doch in die alte Sprache der Gottheiten gewechselt hatte. Sie spürte Heyarr in sich pochen, Druck auf sie ausüben. „Sein Handeln ist nicht von uns so geplant und gewollt. Wir haben ihn beobachtet und werden heute Nacht Entscheidungen treffen.“
Iras Gedanken rasten. Sie konnte Ziff nicht in dem Zustand gehen lassen. Sie griff nach seiner Robe, glättete dabei ihre eigenen Gesichtszüge.
„Ich kann nicht an der Zeremonie teilnehmen, Ziff. Gahlaria ist dem Krieg verfallen. Aber Gahlaria ist nur einer von sieben Kontinenten dieser Welt. Du sagtest selbst, dieses Land sei nicht deins. Sieben Kontinente … du wirst doch auf jedem der sechs anderen mindestens auch eine hohe Hexe in deinem Dienst haben. Ich will sie nicht sehen. Ich will eine Ausnahme sein. Etwas Besonderes.“
Ziff hielt inne. Er hörte ihr zu. Ira war sich dessen sicher, denn die sichtbaren Schemen an seiner Robe wurden lebhafter.
„Du bist etwas Besonderes, Ira Midia Eila van Niderborgen.“
„Beweis es mir. Sag es, während du mir dein Gesicht zeigst. Es ist einer meiner Wünsche.“
Langsam nur wandte sich Ziff wieder ihr zu. Noch immer spürte Ira den Schemen der Stille in ihren Adern, aber wortwörtlich Still war der nicht. Sie hörte ein lautes Pochen. Ziff schaute sie an und für den Bruchteil eines Moments war seine Maske fort und Ira konnte sein Gesicht sehen. Ein so jung wirkendes, blasses Gesicht mit schmalen Rubinaugen. Feine, schwarze Schemenmale und langes Haar, so dunkel und doch nicht farblos, sondern intensiv, wie schwarze Kirschen, getunkt in das violette Endlos Tenezinas. Es war ein kurzer, so langer Moment und Ira hob die Hand, um sie an die Wange ihrer Gottheit zu legen. Doch da war sie schon wieder, die glatte und doch so raue, kalte Oberfläche der Maske.
„Kümmere dich nicht um den Heerführer Er wird dir mehr Leid bringen als der Mann aus dem Ödland“, mahnte Ziff.
Ira stockte. Der Moment der Kontrolle glitt ihr aus den Fingern und der Druck liess sie zittern.
„Less. Mein dummer, verlogener Less. Er kann mir kein Leid mehr bringen. Er ist tot.“
Ziff legte den Kopf leicht schief, seine Maske schien zu lächeln. Dann war er fort und Ira war alleine mit dem Schemen in ihr.