Selene verräumte ihr Buch und seufzte. Eigentlich war sie etwas neidisch. Ihre schlechte Stimmung schwand aber, als die Glocke an der Eingangstür klingelte. Da sie besonders lange geläutet wurde, wusste Selene, dass es sich um Nythica handelte. Sofort sprang sie auf und eilte in den Gang. Sie riss die Tür auf und lächelte die Priesterin an.
„Guten Tag, Nythica! Dein Besuch erweist mir Ehre!“, grüsste Selene ordentlich.
„Guten Tag, Selena. Deine Einladung schenkt mir Freude“, entgegnete Nythica.
Selene führte die Priesterin direkt zu ihrem Zimmer.
„Bist du ganz alleine zuhause?“, fragte Nythica.
„Hu … Man könnte das so nennen“, wich Selene der Frage aus.
Sie wollte Luiko nicht verpetzen. Er hatte sicher Gründe – auch wenn Selene sie nicht verstehen konnte. Nythica war von allen Priesterinnen, ihre Mutter und die Oberste ausgenommen, die liebste und schönste. Sie war rund und weich, besass Haar so rot wie Kirschholz und auf ihrer Haut befanden sich so viele Sommersprossen, wie der Himmel glänzende Sterne trug! Es war wirklich schade, dass Mondkinder nicht andere Mondkinder heiraten durften. Wäre Selene erwachsen gewesen, sie hätte eine so liebe Frau wie Nythica sofort geheiratet!
„Ach. Ich verstehe schon“, murmelte Nythica.
Sie lächelte nicht mehr und auf einmal war die Stimmung seltsam. Selene schob den Eisenriegel vor ihre Zimmertür, damit niemand lauschen kommen konnte.
„Erzähl mir doch, wie deine Woche war“, begann Nythica, als sie sich Selene gegenüber auf Vaneils Bett setzte. Dabei strich sie über das Priesterinnenamulett auf ihrer Brust. So eines würde Selene auch irgendwann tragen.
„Langweilig“, antwortete Selene. „Ich erinnere mich an keinen Traum mehr. Seit dem grossen Albtraum mit den Steinscherben ist alles ruhig.“
Nythica schien fest nachzudenken.
„Du bist doch so talentiert. Ich muss nur herausfinden, wie du die Träume besser ordnen und durchwandern kannst. Auch wenn ich sagen muss, dass ich es selbst nicht einfach finde. Früher soll uns Reka oft direkt Botschaften überbracht haben. Nicht nur Fetzen der Vergangenheit, sondern Tatsachen und Wahrheiten über die Gegenwart. Aber ich habe nie solch eine Botschaft erhalten.“ Sie schüttelte ihren Kopf und ihr langes, rotes Haar. „Selbst die Oberste hat seit über dreissig Jahren keine deutliche Botschaft mehr von den Göttern erhalten.“
„Mh, richtig! Genau!“, rief Selene aufgeregt dazwischen, denn diese Geschichte kannte sie! „Das war im Frühling des Schlüsseljahrs fünfhundert! Reka hat sie im Auftrag der Sternenmutter gewarnt, dass ein grässlicher Sturm kommt, und gerade noch rechtzeitig haben alle die Dämme um Teneantel verstärkt und die Schutzzauber gegen garstige Kreaturen und sogar die Silberketten des Nahrhoun!“
Damals hatten die Priesterinnen noch oft Botschaften von der Göttin der Wahrheit erhalten, der ewigen Tochter der Sternenmutter Navia. Aber nie mehr danach. Damals war Selenes Mutter selbst noch ganz klein gewesen. Jetzt war Selene da und alle hofften, dass sie eines Tages die Botschaften Rekas wieder finden würde. Denn der liebe Mondvater Niouko hatte sie bei ihrer Geburt gesegnet. Leider Selene fand wenig Wahrheit in ihren Träumen. Sie verlor sich ständig darin.
„Das wird schon, Selena“, ermutigte Nythica, als hätte sie Selene die Sorgen direkt angesehen. Sie streckte ihre Hände aus und Selene ergriff sie schüchtern.
„In einigen Jahren wirst du gezielt in den Träumen der Leute wandern und ihre Probleme und Wünsche sehen. Wir schaffen das. Schliess deine Augen und denk ganz fest an das letzte Bild, das du in einem Traum gesehen hast. Lass es langsam Form und Farbe annehmen.“
Selene tat wie geheissen und gab sich fest Mühe. Lange sass sie da und versuchte ein Bild einzufangen. Da war der Silberwolf, das von der Sternengöttin geschaffene Wesen, das ihre Stadt beschützte und einmal im Jahr mit den Jägern um die Wette lief. Ohm Luiko war der letzte gewesen, der ein Rennen gewonnen hatte. Er war besonders stolz darauf und träumte darum oft davon und Selene konnte dann mit ihm und dem Wolf durch die Wälder rennen.
Der Wolf führte sie zum weissen Marder, dem Symbol des Mondes, aber … Abseits des Weges konnte Selene etwas seltsam funkeln sehen. Es flackerte ganz zart, führte sie weg von den heiligen Tieren, immer tiefer in den dunklen Wald und ins Ungewisse. Selene hatte keine Angst, denn ein Irrlicht konnte es nicht sein. Es war golden und warm und kam ihr auch gar nicht fremd vor. Selene lief schneller, wollte das Licht erwischen, auch wenn sie wusste, dass es kein Teil einer Erinnerung war, sondern ihrer eigenen Fantasie entsprang. Sie hatte es beinahe schon! Auf einmal stand sie vor einem Abgrund. Der Boden unter ihr verschwand und schon stürzte sie in die Tiefe! Selene wollte schreien, aber sie war starr.
Als sie endlich die Augen öffnen konnte, kniete Nythica vor ihr und hielt ihre Wangen. Selene wusste nicht, wie lange sie sich der Magie hingegeben hatte, aber ihr Kopf war schwer und ihre Arme und Beine zitterten. Sie hatte wieder nicht an dem Bild festhalten können und sich von ihrer dummen Neugierde ablenken lassen. Schon oft war Selene in diesen Abgrund gestürzt. Aber das erzählte sie keinem.
„Wir machen eine Pause und versuchen es später noch einmal“, entschied Nythica.
„Das … das klingt gut. Danke“, nuschelte Selene beschämt. Vielleicht wollten die anderen darum nie mit ihr spielen. Sie waren gleichzeitig auf sie eifersüchtig und bemitleideten sie für ihre Unfähigkeit, ihrem Familiennamen gerecht zu werden.
Selenes Laune wurde etwas besser, als sie im Wohnzimmer mehrere Brombeeren, Goldbeeren, Maulbeeren und natürlich auch Elsbeeren aus der Früchteschale stibitzte. Normale Sträucher trugen um diese Jahreszeit keine Beeren mehr, aber ihre Sträucher waren heilig und trugen selbst noch im Winter die leckeren Früchte der Götter. Es hiess, wer die Früchte der Gottheiten ass, nahm Aspekte von ihnen auf. Das war perfekt, wenn sie ihre magische Gabe trainieren musste! Nur die Elsbeere gehörte keiner Gottheit, nicht so wie zum Beispiel der Speierling und andere ihrer Verwandten. Darum konnte Selene die Elsbeeren immer alle alleine essen und sich vorstellen, dass sie ihre persönlichen Glücksbeeren waren.
Luiko sass tatsächlich wieder am Tisch, ignorierte sie und Nythica jedoch vollkommen. Auch Nythica sagte nichts. Selene gefiel die Stille nicht, weswegen sie der Mondpriesterin Fragen stellte. Nythica antwortete jeweils, mit an den Tisch setzte sie sich aber nicht und auch Beeren wollte sie keine. Irgendwann fiel Selene nichts mehr ein. Sie kratzte mehr Wachs vom Tisch. Sie wollte nicht mehr üben. Der Abgrund war unheimlich gewesen.