Als Less sein Bewusstsein zum dritten Mal wieder erlangte, genug lange bei Sinnen blieb, um mehr als dumpfe Klänge und verzerrte Eindrücke zu erkennen, war die Luft trocken und die Umgebung blendete ihn. Seine Muskeln waren selbst wie zu Eisen geworden, starr und schwer, und noch immer konnte Less’ Kopf keinen Halt finden. Er schloss seine Augen. Es half kaum. Sein Tastsinn spielte ihm einen Streich. Glaubte, überall gleichzeitig von gefrässigen Insekten berührt zu werden. Sein Mund war voller Dreck und Blut.
Da war ein Käfig gewesen. Andere Leute. Gefangene. Doch nun waren sie fort. Da waren keine Körper, keine Eisenstäbe und auch nicht der kalte Zug frischer Winterluft. Stattdessen lehnte er an einer Mauer, rau und sandig. Es roch nach Staub und Kerzenöl. So trocken. War er frei? Er konnte nicht frei sein, denn er hörte Stimmen.
„… das Ding …“
„… Liskia …“
Liskia. Less erinnerte sich. Er war nicht mehr in Liskia. Er hatte aus Liskia fortgehen wollen. Nicht aber so. Wo war er?
„… Drakar …“
Drakar. Die Dämonen. Natürlich hatten sie gegen das Dämonenheer verloren. Less hatte es gewusst. Er hatte es genau gewusst. Er hatte nur nicht geglaubt, dass es sich so seltsam anfühlen würde.
Er konnte den Rest der Sätze nicht ausmachen. Die Stimmen unterhielten sich in Rasa und Less hatte nie mehr als ein paar Grundsätze davon aufgeschnappt. Gerade genug Worte, um ein Bier bestellen und sich über den Preis beschweren zu können. Er war nie dazu motiviert gewesen. Hatte sich damals nicht schlau genug für so etwas gehalten. Es war schwer, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, wenn diese einen scheitern sehen wollten. Und wenn diejenigen, die einem halfen, später ebenfalls zu solchen Leuten wurden …
Die Stimmen waren verstummt, stattdessen hörte Less Kratzen auf Stein. Schritte.
Wieder öffnete Less die Augen, vorsichtiger diesmal. Er befand sich in einem Raum aus graubraunem Sandstein. Rechts von ihm war eine Tür aus unpassend dunklem Holz. Links von ihm stand eine Echse und glotzte ihn aus gelben Reptilaugen an. Sie trug eine einfache Maske, die nur wenig von ihrem grünen Gesicht und der grossen Schnauze verstecken konnte. In ihren Klauen hielt sie eiserne Handschellen. Less wusste nicht, wie lange die Lücke in seinem Gedächtnis war. Zwei Tage, hatte der eine Feind beim Käfig gesagt. Zwei von wie vielen? Er wusste nicht, was passiert war, wo er sich befand. Aber er wusste, dass er rennen musste.
Less krachte gegen die Tür, als seine Beine bereits nach zwei Schritten zu krampfen begannen. Die Tür gab nach und liess ihn in einen grossen Gang stürzen. Auf seiner Seite befanden sich noch mehr Türen. Gegenüber waren, gleich unterhalb der Decke, Schlitze im Stein eingelassen, durch die Licht strömte, zu eng für ihn. Kein Ausgang. Die Echse hinter ihm jaulte etwas und Lachen ertönte. Kein Ausweg.
Links oder rechts, diesmal spielte es keine Rolle. Less rannte, versuchte nicht auf seine nackten Füsse zu starren, nur auf den Gang vor ihm zu achten. Er durfte nicht anhalten. Sein Körper durfte ihn nicht im Stich lassen. Er durfte nicht stürzen. Nicht jetzt!
Less passierte zwei Bewaffnete, war an ihnen vorbei, ehe sie ihn aufhalten konnten. Hinter ihnen war Licht. Eine Lücke.
Less biss die Zähne zusammen und beschleunigte. Jeder weitere Meter liess den Schmerz etappenweise stärker in seinen Körper zurückkehren. Blut pumpte, Nerven schrien und sein Inneres brannte, hoffte.
Das gleissende Sonnenlicht stach in Less’ Augen und die Luft roch nach Fels, nach Stürmen und Härte, kratzte in seinen Lungenflügeln. Rau. So alt und doch bekannt. Er befand sich in einem Innenhof. Auf allen Seiten ragten die steinernen Mauern in die Höhe, zu hoch und glatt für ihn und seine nackten Füsse, bildeten den Anfang eines Labyrinths.
Less schüttelte ungewollt seinen Kopf. Zögerte eine Sekunde zu lange. Das konnte nicht sein. Er konnte nicht hier sein. Er wurde von hinten getroffen und auf den rauen, sandigen Boden geworfen. Etwas krallte sich an seinem Rücken fest. Less versuchte sich aus dem Griff zu winden. Er spürte die Fessel sich um sein linkes Handgelenk schliessen, riss die rechte möglichst weit zur Seite, versuchte Halt zu finden. Etwas blitzte vor seinem Gesicht, eine Klinge. Sie war auf einmal an seinem Hals und Less konnte nichts sonst mehr tun, ausser den Feind gewähren zu lassen.
Die Echse mit der Maske. Sie hatte ihn überrumpelt. Er konnte ihre grüne, ledrige Schnauze im Augenwinkel sehen, als sie sich über seine Schulter lehnte. Sie zischte im Dinge in einer Sprache zu, die er bestimmt noch nie gehört hatte. Sie mischte einige Worte Rasa hinein, was ihm kaum eine Hilfe war. Erst dann kamen auch Worte auf Westen, wenn auch verzerrt und ohne Zusammenhang. Ärger. Verlieren. Ärger. Nichts.
Less knurrte. Gab einen heiseren, frustrierten Laut von sich. Die grüne Lederschnauze schloss die Schellen um seinen zweiten Arm, bewegte ihren eigenen Körper erst dann von ihm hinunter.
„Los, Lithrilka. Mitkommen“, sprach eine andere Stimme und riss ihn auf die Beine. Die beiden Wachen, die er vorher passiert hatte, standen nun ebenfalls bei ihnen. Es gab kein Entkommen. Er hatte nie zurück ins Ödland gewollt. Und nun war er hier. Ausgerechnet hier.
Die Feinde, die Dämonen, sie brachten in zurück in den Gang, in die andere Richtung und dann um eine Ecke und noch irgendwo hin. Less hätte sich den Weg merken sollen, aber ihm fehlte die Energie dazu. Vorhin war sein Kopf voller Eindrücke gewesen, sein Blut voller Adrenalin. Jetzt war alles fort, von der Erkenntnis seiner Situation weggeschwemmt. Sie hielten in einer Kammer und die beiden Wachen liessen Less mit der Lederschnauze alleine. Aber alleine waren sie nicht. In der Kammer befanden sich bereits wieder andere Feinde.
Less wurde in eine Ecke gedrängt. Da standen zwei, die er tatsächlich kannte. Sie kauerten an der Wand, diesmal bis auf die Unterwäsche entkleidet, all die kleinen und grossen Verletzungen der Schlacht und der letzten Tage blossgestellt. Gla… Anna. Anna war da. Und ihr Kollege, der immer so stark stottern musste, viel zu mager und schwach war, um in eine tatsächliche Schlacht geschickt zu werden. Less hatte sie nicht mal ganz ein Jahr in der Ausbildung gehabt. Ihm waren die dummen, dämlichen Darken doch eigentlich egal. Sie mussten ihm egal sein. Trotzdem fühlte er sich verantwortlich, als er sie so da sah.
Ihm wurden die Fesseln abgenommen. Ein kurzes Stück Freiheit, eine Lüge, denn hier kamen sie nicht weg und die Feinde beobachteten sie genau. Er wurde angewiesen, sich ebenfalls zu entkleiden. Als hätte es noch einen Unterschied gemacht, nachdem sie ihnen sowieso beinahe alles weggenommen hatten. Sie wurden hinter eine halb offene Wand gedrängt. Dort stand ein grosser Trog mit Wasser mit mehreren Schalen und Tüchern. Der Reinigungskristall im Trog leuchtete zu schwach, um das Wasser noch gänzlich von dem Schweiss und Blut jener zu befreien, die vor ihnen hergebracht worden waren. Sie wurden angewiesen, sich gründlich zu waschen. Jemand lachte und sagte, dass es ihre letzte Gelegenheit wäre für eine Weile. Dass sie keine Krankheiten herschleppen wollten. Noch nicht.
„Herr Less … Wo sind wir hier, Herr Less? Was wird mit uns passieren?!“, japste Anna. Ihre Finger zitterten so stark, die Wasserschüssel rutschte ihr gleich zweimal aus den Händen.
„Ich weiss nicht“, ächzte Less. Er hatte verschiedene Vermutungen. Hatte einen starken Verdacht. Wusste eigentlich ganz genau, was los war. Aber was half ihnen das?
„H-H-Herr … Less“, hauchte der Dritte, der das Wasser kaum anrührte, stattdessen seinen eigenen, bleichen Oberkörper umschlang, um so wenigstens etwas Halt zu finden. Er wirkte äusserlich unverletzt, von den paar dunklen Flecken auf der Haut abgesehen. Seine Augen aber waren geweitet und grässlich leer.
Less widerstand dem Drang, seine trockenen Lippen mit dem Wasser aus dem Trog zu benetzen. Es widerte ihn an, das Wasser überhaupt zu verwenden. Aber alles an ihm klebte, brannte. Er leerte sich eine Schüssel voll Wasser über den Kopf, eine weitere über die Schultern, versuchte zumindest den äusseren Dreck von seinem Körper abzukriegen. Dann hielt er dem Dritten eine Schüssel hin, versuchte ihn aus seiner Starre zu holen.
„Wie war noch einmal … dein Name, Soldat?“
Der Bursche bewegte sich zaghaft. Er griff nicht nach der Schüssel, sondern direkt nach Less und klammerte sich an seinen Arm. Less knirschte mit den Zähnen, liess ihn aber gewähren.
„Hörst du mich? Wie war dein Name, nutzloser Darke?!“
„R-R… Ron Miller. Ich h-he-h– Ron M-Miller bin ich. Ihr wolltet E-Euch d-das … doch merken.“
Less gab keine Antwort drauf und auch Anna sagte nichts. Sie schöpfte neues Wasser und kam herüber, um ihrem Kollegen wenigstens etwas Schmutz von der Haut zu wischen. Ihr Gesicht wirkte nicht nur des Wassers wegen feucht und war voll mit … Scham? Mit Reue? Tatsächlicher Angst? Oder war das ein Spiegel von Less’ eigenen Emotionen?