Die Herbstsonne schien unerwartet froh auf den Übungsplatz hinunter und doch fühlte sich Less im Innern düster. Beinahe sieben Wochen waren vergangen, seit er Ira besucht hatte. Der Spätherbst war mit einem warmen Wind gekommen, als würde er ihn rufen. Less wollte – konnte – nicht zurück. Aber auch hier war nichts mehr schön.
Less hatte Ira nicht noch einmal gesehen. Ihm war gar keine Wahl gelassen worden. Hans war nur wenige Tage nach ihm in Liskia erschienen und hatte sofort Marie und deren Bizeps auf ihn gehetzt. Es war zum Streit gekommen und dann hatte der Oberbefehlshaber Less für den Rest des Monats nach Larne an die Grenze versetzt. Erst auf dem Rückweg erhielt er seine Gelegenheit, Ira noch einmal zu sehen, sich ihr zu stellen! So hatte er es sich zumindest vorgestellt, als sie auf ihrem Weg nach Liskia in Nava eine Nacht verbrachten. Doch er war bald darüber informiert worden, dass sie nicht im Land war. Einfach fort. Offiziell war sie geschäftlicher Umstände wegen ausser Haus. Inoffiziell aber, so sagten die Leute, habe sie einem giftigen Verehrer entkommen müssen, für unbekannte Zeit weit weg, ihrer Ehre und ihres armen Herzens wegen.
Es war nicht fair. Ira war die Böse. Sie war die Hexe. Nicht er. Aber sie spielte die Unschuldige und über Less urteilte man. Sie war eine Schemenhexe, die mit dunkler Magie spielte, und trotzdem wollten die Darken ihr mehr glauben als ihm. Wie hatte sich Less so von ihr in die Tiefe ziehen lassen können? Ira war eine Hexe und doch glaubte er ohne sie nicht leben zu können. Er war jedem ihrer Wünsche und Befehle gefolgt. Wieso strafte sie ihn?
Ira war fort und dennoch … dennoch fühlte Less sich von ihr beobachtet. Ständig spürte er dieses unangenehme Kribbeln in seinem Rücken. Drehte sich in dunklen Gassen um und meinte ein Flackern in den Schatten zu sehen, schien in grossen Mengen Ziffs Maske zu erkennen. Ira machte ihr Versprechen wahr. Sie sorgte dafür, dass er sie nie vergessen würde. Er konnte kaum noch richtig schlafen.
„Glatze!“, rief er der kurzhaarigen Soldatin entgegen, als sie als erste der Auszubildenden in seine Sichtweite kam. Es tat gut, so zu rufen und einen Teil seines angestauten Frusts herauszulassen. Die Auszubildenden hatten harsche Worte verdient. Auch am Ende ihrer drei Jahre war über die Hälfte von ihnen nutzlos. Seine Schuld war das nicht. Er war schliesslich selbst erst seit dem Frühling fertig mit der Ausbildung. So kurz erst war das alles her. Die anderen gingen zu locker mit den Neuen um. Was hätte man auch sonst von den Darken erwarten können. Die hatten noch nie wirklich um ihr Leben kämpfen müssen.
„Wo ist der Rest deiner Truppe, Glatze?!“
Sie erreichte ihn, grüsste und atmete erst einmal tief und schwer durch. Erst dann drehte sie sich um und zählte die keuchende Gruppe. Das musste sie doch können.
„Dreck! … jo, die müssen auf halber Strecke abhanden gekommen sein.“
„Und selbst wenn sie absichtlich einen Umweg machen und Tee trinken gegangen wären, ist das deine Verantwortung!“, gab Less ihr zu verstehen und schaute auch die anderen scharf an. „Als Truppenführerin musst du die Nichtsnutze ordnen und beisammen halten! Es bringt dir nichts, sie zurückzulassen und vorzurennen, wenn ihr in einen Hinterhalt kommt! Du bist kein Botenvogel, Glatze!“
„Aber sie ziehen unseren Schnitt hinunter und ich will nicht, dass wir nur wegen einigen am Ende alle unfähig wirken, mein werter Herr Less! Ausserdem heisse ich Kälin, Anna Kälin“, reklamierte Glatze, die auf einmal ganz verspannt an ihren Ärmeln zupfte.
Less äffte sie nach und deutete auf den Boden vor ihrer Nase.
„Das weiss ich selbst. Ihr macht Liegestütze, bis eure unfähigen Kollegen ankommen.“
Die Gruppe ächzte, aber niemand wagte, laut zu werden. Nach und nach legten sie sich auf den von vielen Füssen anderer Generationen plattgedrückten Boden und begannen mit der Übung. Schon kam der nächste in Sicht. Als er Less sah, erreichte er unerwartete Höchstgeschwindigkeiten und warf sich förmlich zwischen die Kollegen.
Nach und nach kamen auch die letzten Soldaten an. Die warfen sich nur noch auf die eigenen Hintern. Unter ihnen bemerkte Less ein halbwegs bekanntes Gesicht. Nur halbwegs, weil der Kerl trotz des Wetteraufschwungs einen dicken, rot-schwarz gestreiften Schal ums Gesicht geschlungen hatte. Und doch halbwegs, weil Less den einen Abend vor fast sieben Wochen noch gut im Gedächtnis hatte. Es war der Lauch, der bei den Duschen eine Abreibung erhalten hatte.
„Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede dafür, so weit unter dem Schnitt der anderen zu liegen, Nichtsnutz!“, forderte Less, woraufhin der Lauch nieste und aufsprang.
„… i-ich bin etwas … nein, nicht müde … a-a-aber erkältet?“, stammelte er.
Less wusste nicht, ob er immer Probleme mit dem Sprechen hatte, oder absolut eingeschüchtert war. Eigentlich tat er ihm etwas leid. Auffällige Mitglieder einer Gruppe wurden beinahe so schnell zum Futter für eitle Darken wie die Leute ausserhalb der Gruppe, und Less hatte als einer von Ausserhalb genug mitgekriegt. Aber er konnte ihn nicht bevorzugen. Es war ein Fakt, dass er die gewollten Leistungen nicht erbrachte.
„Aha. Trägst du darum den Schal? Oder willst du, dass keiner hier dich versteht?“
„N-Nein! … nein, Herr Less!“, winselte der Lauch und zog den Schal tiefer. „Ich trage den Sch-Schal, weil er ähm … Meine Mutter h-ha-hat mir den zum Geburtstag g-geschenkt und ich find den e-e-echt … bequem. Ich hatte Geburtstag.“
Less sog hart Luft ein und verwarf die Hände.
„Ich hatte auch schon mal Geburtstag, das ist doch keine Ausrede! Ausgerechnet du hast nämlich schon letzte Woche einen Einsatz verpennt!“
„Ähm … Ja. En-En… E… Tut mir leid. Das war eben nach meinem … Geburtstag. Ich war bei meiner Familie und h-habe mich e-etwas ähm … Ich hatte die Reisezeit nicht im Kopf.“
„Bei Jonas blutigen Klingen!“
Less hätte gern noch einmal die Hände verworfen, unterliess es jedoch.
„Wir machen eine Pause. Trinkt was, dehnt eure Muskeln, lauft nicht zu weit weg! Du aber bleibst genau hier stehen, bis ich zurück bin! Wie war noch einmal dein Name?“
„M-Mein Name i-i-is… Ich heisse Ron M-Miller“, nuschelte der Lauch.
„Das merk ich mir! Dich behalt ich im Kopf, Miller!“, drohte Less und schaute ihn einmal extra innig an. Der Kerl war ganz rot geworden und hätte sein Gesicht wohl am liebsten noch viel tiefer im Schal vergraben. Jemand aus der Gruppe kicherte.
„Für einen, der den Namen eines Barbaren trägst, bist du jämmerlich dünn“, fiel Less auf.
„Oh ähm … a-also –! Tut mir leid!“, winselte Lauch. „M-M-Me… meine Familie ist seit vielen G-Genera… Die sind nie mehr im Westen gewesen. W-Wenn überhaupt je!“
„Das nennt man Migration, mein werter Herr Less! Wie bei Euch! Euer Name stammt doch eigentlich auch aus dem Westen!“, rief Glatze.
Less wünschte sich, dass irgendeine zufällige Gottheit die ganze Gruppe packte und auf die von Kuhfladen übersäte Wiese warf, auf die sie gehörte. Oder auch nur ihn selbst aus diesem Schwachsinn herausholte.
„Hab ich euch nicht gesagt, dass ihr Pause machen sollt?! Los, verzieht euch schon!“
Diesmal folgten sie dem Befehl und verstreuten sich ohne weitere Kommentare. Nur Lauch blieb beschämt stehen und Less liess ihn dort. So konnte das nicht weitergehen. Er war nicht in dieses Land gekommen, um Kinder zu hüten.