Für eine Weile war es beinahe ruhig. Dann schlug die grosse Uhr am Ostturm neun Uhr. Erst neun. Das Tor öffnete sich langsam, würde gerade genug lange offen bleiben, um alle Truppen hinaus auf die Hauptstrasse ins Tal zu lassen. Less’ Truppe war die erste, die den Schutz der Stadt verliess und den ihr zugewiesenen Platz auf dem künftigen Schlachtfeld einnahm. Auf dem Weg konnte Less frisch umgewühlte Flecken Erde sehen, da notdürftig noch Schutzkristalle und andere Dinge, von denen er selbst nur wenig wusste, vergraben worden waren. Warum hatten sie nicht mehr Zeit gehabt, einen Schlachtort weiter entfernt von der Stadt wählen können, irgendwann später, mit ihm schon auf dem Weg in die Berge? Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Von ihrer Position aus hatten sie den Punkt gut in Sicht, an dem die drei Täler zusammenliefen. Aus dem Westen und Norden konnte der Feind sich nicht effektiv nähern, da Liskia bis an die Klippen der Fluh reichte. Alle Eingänge zur Stadt, vom grossen Südtor und dem Ostturm abgesehen, waren fest verriegelt und mit Eisen beschlagen. Noch war der Feind nicht in Sicht und trotzdem war sich Less sicher, dass er nahe sein musste. Die Luft schien leicht zu flimmern und kurz glaubte er, seine Augen spielen ihm einen Streich. Aber dem war nicht so.
Aus dem Nichts tauchte ein Felsbrocken auf und flog rasant über das Heer hinweg. Less hatte sich noch nicht einmal umdrehen können, als er bereits den Aufschlag hörte. Zeit für eine Reaktion blieb ihnen auch gar nicht, denn auf einmal stand der Feind da. Einige hinter Less schrien auf. Wo zuvor nur Luft gewesen war, die Sicht frei auf die Strasse und die Felder, war nun alles voll mit Körpern. Mit Katapulten und Käfigen ausgerüstet. Es waren so viele und die vordersten stürmten bereits auf sie zu. Less hörte von irgendwoher Alexanders laute Stimme und gab seiner Truppe wiederum den Befehl, die Position zu halten. Die Speere zu halten und genau dann zu senken, wenn der Feind nicht mehr ausweichen konnte. Für einige Momente konnte Liskia die Formationen einhalten. Dann herrschte Chaos.
Links und rechts von ihm fielen die Menschen. Überwürfe mit Darkeens Wappen wie auch ganz gewöhnliche Jacken, die vor nichts schützten, wurden rot. Less schlitzte seinem ersten Gegner die Brust auf. Der nächste rückte sofort nach, aber Less gab ihm keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Dann kam der übernächste. Und noch einer. Und noch ein weiterer. Einige waren Dämonen, einige Menschen, bei anderen war sich Less nicht sicher. Es spielte keine Rolle. Die Verdammten aus dem Süden, Verräter aus dem Osten, Halunken aus dem Norden, Bastarde aus dem Westen und die Monster aus Tarveas Unterwelt, sie waren doch alle aus dem gleichen Grund hier.
Less schnappte laut nach Luft, als er den nächsten Gegner traf. Es war Winter und doch schwitzte er bereits. Er brannte. Die Morgensonne blendete ihn und da waren so viele wirre Geräusche rundherum, so viel Lärm. Eine Stunde, zwei, nur wenige Sekunden. Gerade zählte nur das Jetzt und das Jetzt wurde knapper, denn er fand bereits weniger und weniger Verbündete rundherum.
Ein grässliches Kreischen übertönte selbst das schrille Klirren der Waffen und donnernde Brüllen der Kämpfenden, die rauen Schreie der Sterbenden. Less krümmte sich und wankte, passte nur kurz nicht auf und schon traf ihn eine Waffe. Sie prallte von seiner Rüstung ab, doch der zweite Schlag folgte gleich. Vor Less befand sich eine Echse. Trotz ihres harten Schuppenkörpers war sie dick angezogen. Dick, aber nicht schützend. Less erkannte in ihrem langen, krummen Hals eine Schwachstelle und schlug zu, als sie ungeübt viel zu weit für ihren dritten Angriff ausholte.
„Hier hast du Vetseg!“
Hinter ihm schlug ein knisterndes Feld aus Magie aus dem Boden und Less musste mit einem grossen Sprung ausweichen, wurde eigentlich mehr geschleudert. Er wusste nicht, ob es ein Angriff der Feinde oder eine Reaktion der Schutzsteine gewesen war. Aber die Platten seiner Rüstung vibrierten auf einmal und ihm fiel auf, dass sein rechtes Ohr schmerzte. Ein knapper Griff verriet ihm, dass sein Ohr noch da war, das war alles, was gerade zählte. Es war noch da. Er war noch da. Aber auch der Feind war da.
Er sah ein Katapult. Zwei standen daneben. Einer war sofort am Boden, die andere war eine Mostaka, ein Dämon mit beachtlichen Muskeln und einer von Dornen übersäten Haut. Als Less sie zu erstechen versuchte, packte die Mostaka seine Klinge, als wäre sie eine Übungswaffe. Über Less’ Schwert lief dunkles Blut, aber seiner Gegnerin schien es egal zu sein. Sie entriss ihm die Waffe mit einer ruckartigen Bewegung und lachte. Less fauchte und rammte die Dämonin mit vollem Körpereinsatz. Auf einmal lagen sie beide am Boden, hinter dem Katapult. Less ballte seine Fäuste und schlug der Mostaka die metallenen Platten seiner Handschuhe ins Gesicht. Erst rechts, dann links und wieder rechts, bis er etwas knacken hören konnte. Sie löste ihren eigenen Griff. Less packte sein Schwert, sprang auf und schlug die Klinge durch das Seil des Katapults. Es würde nicht –
Etwas packte ihn und riss ihn fort. Less konnte keinen Angreifer sehen, seine Rüstung selbst schien sich auf einmal gegen ihn verschworen zu haben und er konnte sich nicht mehr bewegen! Die Welt drehte sich viel zu schnell, als er über das Feld geschleudert wurde und mitten im Schlamm eines Ackerfelds landete, das statt mit der neuen Saat mit Körpern bedeckt war. Less ächzte, blinzelte und tastete nach seinem Schwert. Er fand den Griff gerade, als ein Schatten sich über ihn legte und die Sonne verdeckte. Ein massives Gewicht stellte sich auf seinen Handschuh und nagelte ihn am Schwertgriff fest. Less keuchte.
Die Mostaka von vorhin war wieder auf den Beinen. Sie hatte eine Lanze. So eine Waffe, geführt von solch einem Wesen … da half auch ein Brustpanzer nicht.
Less blieb keine Zeit, einen Ausweg zu finden. Die Dämonin zog an. Dann wurde sie von einem hellen Etwas getroffen und aus Less’ Blickfeld geworfen. Less wartete nicht auf eine Erklärung und sprang auf. Seine Hand schmerzte, aber noch konnte er die Waffe halten. Ein anderer Ritter trat neben ihn und Less entwich ein lautloses Krächzen.
„Was bei Vasteas Brüsten machst’n du hier, Slander?!“
Der Magier gab ihm keine Antwort. Das, oder Less konnte sein Nuscheln durch den Helm und die ganzen anderen Geräusche der Schlacht hindurch nicht verstehen. So oder so schlich sich ein verzweifeltes Grinsen in sein Gesicht, das er trotz der Situation nicht loswerden konnte. Hatte ihm Slander nicht gestern erst irgendetwas von einem grossartigen, magischen Plan gegen den Heerführer erzählt gehabt? War doch alles für die Katz.
„Alles klar“, sagte Less zu sich selbst, als einmal mehr deutlich wurde, wie verloren sie waren.
Obwohl man es Slander kaum zutrauen mochte, wenn man ihn reden hörte, besass er tatsächlich die Kraft und Disziplin, die es für einen guten Kämpfer brauchte. Rücken an Rücken kämpften sie also, während Less versuchte, einen Ausweg zu finden. Links stürzte sich eine wild aussehende Kreatur, die Less noch nie gesehen hatte, auf frische Beute. Rechts griff ein Dämon mit zischendem Dampf an, der sie nur knapp verfehlte. Etwas vor ihnen entlud sich ein weiterer Schutzstein und brachte zwei Gegner, aber auch einen ihrer eigenen Soldaten zu Fall.
Slander rief etwas und Less brauchte viel zu lange, um das Rauschen in seinen Ohren zu verarbeiten und zu erkennen, dass es sein Name gewesen war. Er drehte sich um, da spürte er den Magier bereits von seiner Seite weichen. Es war, als würde die Luft selbst um ihn herum zerreissen! Wo eben noch der andere gestanden hatte, war nun nichts. Gar niemand mehr.
Der ach so ehrenhafte Trigon Slander hatte ihn im Stich gelassen!
Noch während Less das dachte, traf ihn etwas an Kopf und Nacken und brachte ihn kurz zum Taumeln. Seine Rüstung knirschte laut und als Less nach der Waffe tastete, sich umdrehen und wieder angreifen wollte, verschwamm seine Umgebung bereits vor ihm. Er sah einen kleinen, nadelförmigen Kristall in seinen Fingern, dann zerbröckelte der Kristall und mit ihm zerbröckelte auch alles rundherum. Ein Schemen lief über seine Rüstung, zischte und qualmte und liess sich doch nicht aufhalten. Less spürte noch die schlammige Erde unter sich, als er stürzte. Dann war alles weg.