Sie stand vor dem grossen Fenster im Obergeschoss und blickte auf das Dorf hinunter. Sie sah nur wenige der kleinen Lichter, die mit dem Beginn der Nacht hinter anderen Fenstern sowie im kleinen Tempel und dem einen Wachposten entzündet wurden. Das Dorf hatte sich verändert mit den Jahren. Häuser hatten ihre Besitzerinnen gewechselt, mehr Land war überbaut worden und einst bekannte Gebäude blieben kaum erkennbar. Selbst das Fenster vor ihr hatte sich verändert. Einst waren die Scheiben dick und trüb gewesen. Trüb aber bemalt, um mit hellem Rosa, Grün und etwas Gelb den Frühling zu begrüssen. Das neue, klare Fenster war teuer gewesen und sie hatte die Änderung zuerst begrüsst. Oft konnte sie die Aussicht jedoch nicht geniessen. Der Nebel hinter der Scheibe war dick und bedeckte die Welt am und unterhalb des Sirrings so zuverlässig wie schon immer. Daran änderte auch die Zeit nichts.
Ira schaute in den Nebel hinaus und dachte an den heranrückenden Frühling. Niderborgen würde ihn in einem weissen Mantel und auch einem weissen Kleid begrüssen, denn es hatte noch einmal geschneit. Die Farbtupfer, die sich bereits unter dem Frost hervortrauten, waren zerbrechlich und der Anzahl wenige. Sie zitterten, wann immer sie der feuchte Hauch der Toten streifte. Der Rest des Landes war schwarz. Für Darkeen gab es wenig zu feiern. Keine Frühlingsspiele, keine Tänze und Gesänge – und eigentlich hätte Ira egal sein müssen, was das einfache Volk zum Jahresbeginn machte. Die ständig so ernsten und traurigen Gesichter aber, die Beerdigungen und die fehlenden Lichter, die befleckten auch ihre Stimmung und liessen sie des Frühlings schon müde sein, bevor er begonnen hatte.
Ein Pferd mit Reiter schälte sich aus dem Nebel und näherte sich dem Tor zum Anwesen. Der Reiter hielt vor dem Tor und wartete, während sein Pferd nervös tänzelte. Es dauerte seine Weile, bis ihr Landhüter seinen Schuppen verliess. Ira war sich sicher, dass er die ganze Zeit über fluchte und grummelte, bis er den Schlüssel an seinem Platz hatte und der Reiter das Anwesen betreten konnte. Tatsächlich verübelte sie es ihm nicht. Seit der Übernahme hatten sich viele vor das Tor gestellt und nur wenige davon waren eingeladen gewesen.
Der Landhüter nahm dem Reiter die Zügel ab und der Reiter vollendete den Rest seines Wegs zu Fuss, dick in seinen Wintermantel gewickelt und mit viel Gepäck an der Seite. Ira streckte ihr Gespür nach ihm aus, obwohl sie ihn anhand der Kleidung und der rotblonden Locken auch ohne diesen Schritt hätte erkennen sollen. Es fiel ihr inzwischen schwer, alle Mitglieder ihrer Familie im Gedächtnis zu behalten, obwohl ihr Gedächtnis sonst so scharf und zuverlässig war. Sie wirkten ihr teilweise so … fern. So klein. Aber ihren Henri kannte sie doch. Henri war ein guter Junge. Ein Bursche mit tatsächlichem Potential.
Ira schloss die Augen und lauschte dem Klicken und Knirschen der Eingangstür im Erdgeschoss. Der silbernen Klingel und den Schritten der Bediensteten. Ihren Stimmen, die nicht trauten, laut zu werden. Nun war es die Treppe, die knarrte. Ira richtete die Ärmel ihres Kleides und faltete die Hände. Erneut blickte sie auf Niderborgen hinab. Irgendeinem ihrer Vorfahren war es in Nava zu eng geworden. Wahrscheinlich hatte es Reibereien mit den Finueraein gegeben. So war das kleine, so schöne Niderborgen entstanden. Hier in diesem Haus war sie geboren worden. Hier, vor über hundert Wintern, im runden Jahr Vierhundert. Damals hatte sich die Welt allgemein kleiner angefühlt und sie hatte nach mehr gestrebt. So viel mehr. Und trotzdem stand sie hier an diesem Fenster. Eine Fremde in ihrem eigenen Haus.
„Guten Abend, Ira“, sprach Henri sie mit gesenkter Stimme an.
Er hatte einige Sekunden neben der Treppe verharrt, ehe er sich näher getraute. Ira drehte sich noch nicht zu ihm um, aber ein feines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie ihm mit einer Geste andeutete, zu ihr zu treten. Henri hatte es nicht einfach, den die van Niderborgen waren streng und besassen hohe Ansprüche. Das war schon vor hundert Jahren so gewesen. Ira aber konnte er vertrauen. Auch sie war streng und hatte besonders hohe Ansprüche. Aber sie sah das in ihm, was der Rest der Familie nicht sehen konnte. Sie sahen die Privilegien, die Ira ihnen erarbeitet hatte, als gegeben an und glaubten gar, sie hätten selbst dazu beigetragen, während sie einfachste Politik betrieben. Es war enttäuschend.
„Henri, mein Junge. Hast du gut durch den Nebel gefunden?“, fragte Ira, als er bei ihr stand.
Nun wandte sie sich doch noch ihm zu und betrachtete ihn. Auch diesmal musste er Mut ansammeln, ehe er mit ihr sprechen konnte. Äusserlich sahen sie ähnlich alt aus, doch war Henri ein Kind für sie. Seine Augen waren so hell und immer eine Spur zu weit aufgerissen. Er war ein zarter Bursche und dass sein linker Arm zu kurz und mit zu wenig Fingern mit ihm auf die Welt gekommen war, hatte seiner Position in der Familie nicht geholfen. Sein Vater hatte einen kühnen Ritter und Nachfolger als Sohn gewollt. Einen Rabauken, wie er selbst einer gewesen war. Er hatte nie verstanden, dass dieser Junge nicht seiner war. Er war so viel mehr. Er war ihrer.
Der Nebel hatte Henris schönes, rotblondes Haar noch lockiger gemacht als sonst. Mehr als Iras Haar auf jeden Fall. Eine Eigenschaft, die er von seiner nutzlosen Mutter mitgekriegt hatte. Aber Ira war nicht traurig darum. Nur durch ihre Hilfe wohl hatte Henri den aktiven Zugang zu seiner Seele finden können, diese Verbindung, die er nun mit ihr teilen konnte, während sie seinem Vater und auch der Grossmutter verwehrt geblieben war. Ira lächelte und strich ihm eine der feinen Locken aus dem nassen, warmen Gesicht. Henri war ihr Junge. Sie war immer gut zu ihm gewesen. Es war tragisch, dass er sich vor ihr fürchtete.
„Ich ha-habe Neuigkeiten aus Liskia, Ira. Neuigkeiten, die auch Euch etwas angehen.“
Ira lachte leise. Sie griff nach Henris linken Arm und er zuckte zurück. Sie aber bestand darauf und hakte sich an seiner Seite ein. Er konnte ihr nicht widersprechen. Sie führte ihn hinüber in ihr Gästezimmer und pflanzte ihn auf einen der samtbezogenen Hocker.
„Gute doch, will ich hoffen? Der Frühling ist nahe und wir werden heute Abend mit einem gemeinsamen Essen den Winter ausläuten, so wie es immer Tradition war. Ich will das neue Jahr nicht mit einer schlechten Laune begrüssen müssen.“
Henri hatte die Augen besonders weit offen und dachte angestrengt nach.
„Gute …? Hm. Na ja. In Waldauen gab es viele Opfer, aber –! Larne zumindest hat sich gut gehalten und inzwischen ebenfalls Darkeens Niederlage anerkannt. Das ist doch eine g-gute Botschaft? Wenn wir durch sie den Handel mit den Nachbarn wieder stärk–“
Ira schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Sie nahm eine Schüssel besonders süsser Schleckereien und einen Schnaps mit zwei Gläsern aus der Vitrine und stellte diese auf den Tisch vor Henri. Sie gönnte sich selbst einen Schluck, sobald sie neben ihm sass.
„Scht. Diese Art von Botschaften habe ich nicht gemeint und ich weiss auch, dass du mir diese nicht bringen wolltest, Henri. Ich war seit dem Angriff selbst bereits zweimal in allen grossen Städten. Ich weiss, wie es um das Land steht“, sagte sie leise und nickte ihm auffordernd zu, woraufhin auch Henri sich etwas Schnaps einschenkte und ein einzelnes Zückerchen aus der Schüssel herauspickte.
„Erzähl mir lieber, ob die Prinzessin und ihr Rat endlich deine Arbeit anerkennen und dich offiziell zu ihrem neuen Hofzauberer ernennen werden. Dein Vorgänger ist tot, der angepriesene Magier fort und wer sonst hätte die passenden Qualitäten dazu? Wohl kaum einer deiner weinerlichen Verwandten aus Friedbach!“
Henri lachte knapp auf, aber Ira konnte ihm anhören, dass es kein glückliches, ehrliches Lachen war. Er war ein schlechter Schauspieler. Dabei hatte sie ihm schon oft gesagt, dass er seine Mimik und erst recht seine Stimme unter Kontrolle haben musste, wenn er es vor den anderen Adeligen und erst recht am Hof weit bringen wollte.
„Ira, bitte. Die Zeremonie für die Seelen der Königin und des Königs und all der anderen ist erst eine Woche her. Die Prinzessin ist … sie ist fast allein und der Thron noch nicht tatsächlich ihrer. Wieso sollte sie über solch eine Kleinigkeit wie meinen Titel nachdenken?“
„Sie würde es tun, wenn sie schlau und strenger erzogen wäre“, widersprach Ira. „Ihr Land ist zerschlagen, ihre Tempel und Wachtürme werden vom Heerführer besetzt und mindestens drei seiner Verbündeten liebäugeln mit genau dem jetzt so leer stehenden Thron. In solchen Zeiten muss man rasch und ohne Rücksicht Entscheidungen treffen.“