Less stoppte erst in der Kneipe. Heute wollte er über nichts mehr nachdenken müssen. Sein Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Schon wurde er ein weiteres Mal abgefangen, diesmal aber von keinem anderen als dem grossen, heiligen Trigon Slander. Jeanne mochte engstirnig und idealistisch sein. Ihr Vetter aber, der war blindgläubig und verblendet. Aber er hielt ihm einen vollen Bierkrug entgegen und das konnte Less nicht ablehnen. Er würde sein Geld noch brauchen, wenn er erst weg war.
„Womit hab ich diese Ehre verdient? Hat Jeanne damit zu tun?“, fragte Less müde und setzte sich Slander zwar gegenüber, rührte das Bier aber nicht an.
Auch Slanders Krug war voll. Der trank doch nie. Der hatte irgendwas geplant. Er sah Jeanne ähnlich, aber sein Haar war dunkel, nicht golden. Mitten darin befand sich eine dicke, graue Strähne. Es hiess, es sei das Mal einer Hexe. Er war der Sohn einer Hexe und darum konnte er als Magier arbeiten. Less aber kannte nur eine Hexe und an der hatte er nie ein graues Haar gefunden und Ira hatte auch nie ein einziges Wort über Slander fallen lassen. Slander hatte sich nie in seinem Leben bemühen müssen. Alle in Liskia liebten ihn und trotzdem wirkte er nie glücklich.
„Nicht direkt. N-Nein eigentlich … eigentlich gar nicht. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber … v-vielleicht kannst du mir tatsächlich bei meinen Studien helfen?“, erklärte Slander und Less wäre am liebsten wieder gegangen.
Eigentlich war Slander nicht nur Magier, sondern ebenso wie sie anderen auch ein Ritter. Aber immer hatte die Nase in irgendwelchen Büchern vergraben. Schon der Gedanke langweilte Less. Hätte Ira sich mit so einem verstanden?
„Ich soll dir helfen? Ich Armseliger kann doch nicht mal lesen“, schnaufte Less und versuchte die jäh noch stärkere Abneigung gegen Slander herunterzuschlucken. Slander lachte sehr künstlich und Less konnte ihm ansehen, dass er dieses Gespräch ebenfalls nicht genoss.
„Wie auch … immer. Du hast bestimmt b-bereits einiges über … meine Sache gehört. Ich habe viele I-Informationen gesammelt, aber das alles ist nicht vergleichbar mit jemandem, der tatsächlich p-persönliche Erfahrungen mit … einem Schemenwächter gemacht hat.“
Less hob den Krug an die Lippen und versuchte geduldig genug zu sein, um sich das alles anzuhören, obwohl Slander sehr langsam und vor allem langweilig sprach. Am Ende aber reichte es ihm und er schlug den Krug auf den Tisch. Er musste Ruhe bewahren, denn sonst hätte er am ende zwei Flüche am Hals. Aber wirklich ernst nehmen konnte er Slander nicht.
„Was ist mit ihm?“, fragte er ebenfalls langsam und extra deutlich.
Der Magier schien es selbst nicht genau zu wissen und brachte auch keine Vorschläge. Less wollte eigentlich nicht über so etwas reden, aber er wollte es sich heute nicht auch mit noch mehr Leuten verscherzen. Es reichte bereits, dass eine Slander nicht mehr mit ihm sprach.
„Ich mochte ihn nie, ich redete nie mit ihm, er hat mich verflucht und sich wie ein Geschwür in dem ach so heiligen Hügel, den ihr Sirring nennt, verwurzelt. Aber mit deinem Heerführer hat er nichts zu tun. Frag doch Jeanne, wenn du mehr wissen willst.“
Less wusste wirklich beinahe nichts über Ziff, obwohl er so lange um die Frau gekämpft hatte, die ihm diente. Es hatte ihn nicht interessiert. Götter sprachen nur mit Sterblichen, wenn sie sich einen Nutzen daraus schlagen konnten und darum sollte man als Sterblicher Abstand wahren. Ziff war eine Gottheit, und eine dunkle noch dazu. Less hatte ihn im letzten Jahr wohl öfters gesehen als die meisten überhaupt je. Hatte die Maske angestarrt und sich gefragt, ob das Gesicht dahinter tatsächlich so zart war, wie der Rest der Gottheit auf ihn wirkte. Ziff hatte nie gefährlich oder wichtig gewirkt. Nicht bis Less seine Schemen selbst an sich gespürt hatte. Nun wollte er erst recht Abstand von allen alten Kräften wahren.
Der Magier schien entweder nicht zu verstehen oder ihm nicht zu glauben.
„D-Denkst du … glaubst du, er könnte uns eine Hilfe sein?“, fragte er so leise, als hätte er Angst, ihn damit zu beschwören. „G-Gegen den Heerführer meine ich. Dass er und Ira u–“
Less lachte laut und wenn es auch nur dazu diente, dieses Gespräch endlich zu beenden. Es gab wirklich keinen Ort in Liskia, an dem er der verfluchten Hexe entkommen konnte. Als wären diese Leute Ira wichtig gewesen. Er war ihr nicht wichtig gewesen.
„Du solltest deine Familie nehmen und einfach gehen“, gab Less ihm den gleichen Rat, den er schon Poul vergebens nahegelegt hatte. „Du solltest gehen und ich sollte das auch. Einfach verschwinden. Jahrelang hat diese Stadt auf die Dämonen gespuckt und …“
Natürlich hatte ihr Gespräch jemanden angelockt. Natürlich war es einer von Less’ eigenen Auszubildenden. Der dünne Kerl mit dem Schal. Sein Name war ihm entfallen, aber das spielte keine Rolle. Der Bursche war noch betrunkener als Poul. Das konnte Less nicht gebrauchen und darum drückte er dem Soldaten die Hand vor den Mund, noch ehe der seine Begrüssung zu Ende hatte aufsagen können. Der Soldat aber verstand die Geste nicht, wich ihm nicht aus. Er blieb mit dem Gesicht an seiner Hand kleben, als wäre sie ein Kissen.
„… jetzt auf einmal wollt ihr euch alle von der Magie einer Schemenhexe retten lassen! Diese Stadt wird ebenfalls fallen, Slander. Siehst du das wirklich nicht?“, beendete Less seine Rede.
Slander war sichtbar empört und nuschelte unvollständige und leere Argumente zusammen. Selbst jetzt, mit der puren Wahrheit direkt vor seinem Gesicht, wollte er nicht zuhören. Sie wussten inzwischen mehr über den Heerführer. Er war wie Ira, war ein hoher Hexer. Er diente aber nicht Ziff, sondern einem seiner sechs Brüder. Einem Karosyarran, der im Gegensatz zu Ziff tatsächlich offen und direkt auf Blut aus war. Slander hatte ihm nicht einmal mit dem Wandelfluch helfen können, glaubte aber daran, den Heerführer aufzuhalten und damit heldenhaft ganz Vvasta retten zu können. Less hatte in der Tat von seiner Studie gehört. Aber im Gegensatz zu den dummen Darken konnte er nicht daran glauben.
„Dann geh zum Sirring und frag Ira selbst. Geh und füll die Stille mit deinem Stammeln, Slander. Ich hab damit nichts mehr zu tun“, sagte Less heiser.
Er zog seine Hand aus dem Gesicht des Frischlings. Der Soldat lächelte, als wäre nichts seltsam an der Situation und streckte ihm auffordernd den eigenen Krug zum Anstossen entgegen. Er zwinkerte, fand sich dabei wohl sehr erotisch und Less schnaufte und hob seinen eigenen Krug, obwohl auch heute das Trinken das Brennen in ihm nicht lindern konnte und seine nebeligen Erinnerungen nur noch mehr verzerrte.
„Gut für dich, Leather“, sagte Slander auf einmal unerwartet laut und klar. „Ira wird nämlich morgen selbst herkommen und die Schutzzauber erneuern, die auch d-deinen Koboldhintern vor dem Feind schützen!“
Less dachte, dass er die Situation halbwegs unter Kontrolle hatte. Das mit Poul war ungeschickt gewesen. Ein Missverständnis. Nun aber war alles fort. Er dachte nicht mehr daran, was er gerade tat und was um ihn herum geschah. Er sprang auf und spürte noch, wie er dabei gegen den Soldaten stiess und auch seinen Stuhl und er hörte es krachen, aber er hörte es nur weit entfernt. Er hatte Ira beinahe vergessen, den Schmerz verdrängt. Aber nun würde sie in die Stadt kommen und er konnte nichts tun. Er konnte nur fliehen.
„Fick dich, Slander! Fick dich und deine Magie!! Fickt euch alle, diese Stadt und die Hexe!!!“, fauchte Less, als er aus der Taverne stürmte.
Er konnte es nicht verstehen. Dieser Magier wollte sich von der Hexe und ihrem Wächter helfen lassen. Er hatte gesehen, was sie ihm angetan hatte. Aber wieder hörte keiner auf Less, denn er war nur ein jämmerlicher, unfähiger Vimmer und die Darken lachten über ihn.
Er biss die Zähne zusammen und wusste nicht, wohin er überhaupt noch sollte. Er spürte Blut in seinem Mund. Wie konnte es im Spätwinter so heiss sein? Gleichzeitig klebte neuer und alter Schweiss kalt an ihm. Ira würde bald hier sein.
Auf einmal war Poul wieder da und wie versprochen hatte er Jeanne mitgebracht. Sie rief zornig nach ihm, als sie dann aber vor ihm stand, wurde ihr Blick so unglaublich mitleidig, so überheblich. Less konnte es nicht ertragen. Sie hatte seit ihrer Konfrontation auf dem Übungsgelände nicht mehr mit ihm gesprochen und nun stellte sie sich ihm in den Weg und konnte ihn trotzdem nicht einmal schlagen, ihn verdient bestrafen. So perfekt war sie. So minder war er vor ihr. Less eilte an Jeanne vorbei und sie folgte ihm zum Glück nicht. Poul hingegen rief noch mehrfach nach ihm, holte ihn dann an ein und packte Less, nur um ihn sofort wieder loszulassen und ihm sehr freiwillig nachzulaufen.
„Willst du immer noch deinen Eid verraten und unerlaubt verschwinden?“, fragte Poul nach drei Gassen.
„I-Ich muss, Poul. Ich muss hier endlich weg“, antwortete Less tonlos.
„Wir –! Ich … Ich wünschte, wir hätten einen schöneren letzten Abend gehabt.“
Less blinzelte, bereute auf einmal so viel.
„Das hätte ich mir auch gewünscht, Poul.“
~ Ende Akt 1.1