Auf einem der Gänge der Kaserne entdeckte Less den Oberbefehlshaber. Er lief mit gehetzten Schritten auf das Besprechungszimmer zu, das Less hauptsächlich vom Trinken her kannte. Er betrat es und schloss die Tür. Less zögerte, riss sich dann aber zusammen und folgte ihm. Less hatte seine Faust schon zum Klopfen bereit, als er erneut innehielt. Der Oberbefehlshaber war nicht alleine im Zimmer, jemand, ein Bote wohl, redete mit ihm. Less’ verfluchten Ohren hörten selbst durch die dicke Holztür hindurch jedes Wort. Erfuhren so ungewollt von den Unruhen im Süden.
Unruhen. Der Bote nannte das zwar so, aber eigentlich war es das falsche Wort. Je mehr Less hörte, umso näher kam er der Tür. Es ging um Krieg und vor allem um Krieg, der auch sie betreffen könnte. Einen Heerführer.
Less entschied, dass es nichts brachte, wenn er weiter heimlich lauschte. Er klopfte darum endlich und stellte sich gerade hin. Nicht jedes Gerücht, das sie erreichte, war tatsächlich wahr und vor allem realistisch. Aber wenn es stimmte, dann konnte Less helfen. Er konnte beweisen, dass er mehr war als eine unwürdige Last. Mehr als ein verfluchter Dummkopf. Vielleicht würde er sich dann endlich irgendwo zuhause fühlen.
„Ah, Herr Ritter Less. Was gibt es?“, fragte der Oberbefehlshaber, als er die Tür öffnete. Less hatte ihn als einen ruhigen, für einen Adeligen erstaunlich bodenständigen Mann kennenlernen dürfen. Gerade aber wirkte er angespannt.
„Wenn der Süden brennt, bin ich der Richtige, weitere und vor allem effektive Nachforschung zu betreiben“, kam Less gleich zur Sache. Es brachte nichts, so zu tun als hätte er nicht alles gehört. „Ich bin schnell, kenne mich mit den Leuten aus und benötige nur eine kleine Gruppe für Notfälle.“
Der Oberbefehlshaber schwieg und Less glaubte, dass er explizit seine Ohren anstarrte. Doch dann nickte er und bat ihn hinein. Der Bote starrte ihn ebenfalls an und war perplex.
„Alexander, ist das etwa Herr Less?“, wisperte er.
„Wer sollte ich sonst sein?“, knirschte Less, obwohl und gerade weil die Frage nicht an ihn direkt gerichtet war.
Der Mann starrte noch immer, wirkte angewidert. Erst als der Oberbefehlshaber sich räusperte, kam er auf das eigentliche Thema zurück, gab Einzelheiten preis, welche die Situation weder klarer noch besser machten.
„Ist der Heerführer ein Dämon?“, fragte Less.
„Ich denke nicht? Er wurde als menschlich aussehend beschrieben“, antwortete der Bote.
„Pha! Was soll das denn heissen? Nicht jeder Dämon hat Flügel oder Krallen! Am Ende soll es wohl eine Albe sein? Lichtwesen gefallen mir nur wenig besser als Dämonen, aber für die würde es doch etwas weit gehen, sich als Heerführer zu bezeichnen und mit Blut und Gewalt Länder zu erobern! Die machen das –!“
„Was könnte er denn für ein Wesen sein?“, unterbrach Alexander. „Vielleicht ist er tatsächlich ein Mensch und besitzt eine unerwartet starke Seele oder wurde von einer Gottheit zu einem bestimmten Zweck erwählt … vielleicht eine Hexe?“
Less war unangenehm, dass der Oberbefehlshaber ihn beim letzten Wort anschaute. Alexander kannte Ira. Er wusste wahrscheinlich besser Bescheid als Less es je würde.
„Ich will nicht unhöflich sein“, meldete der Bote alles andere als höflich, „aber ich bezweifle, dass es gut ist, einen Südländer mit so aussergewöhnlichen Merkmal–“
Sofort glotzte Less zu dem Mann und zeigte seine Zähne.
„Ich bin kein Südländer! Ich bin ein Ödländer! Und so auffällig bin ich nicht!“
„Ja, noch schlimmer eigentlich. Die Südländer besitzen im Vergleich zu den Leuten in Cragvim wenigstens eine interessante Kultur und sind nicht so verstreut, dass sie ihre eigenen wirren Ahnenkunden nicht mehr besitzen.“
Alexander wollte wieder intervenieren, aber Less liess ihn nicht: „Gut! Schön! Geh zurück mit deiner Kundschaft und erzähle dort allen von diesem schönen Vergleich! Ich gebe dir drei Tage, ehe der Heerführer dich zu seiner Fussmatte macht!!“
„Less, bitte –“
Abermals liess Less Alexander nicht sprechen. Er stürmte aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Diese blöden Mittelländer. Was machte er überhaupt hier.
Draussen hatte sich ausgerechnet Poul zu den Frischlingen gesetzt. Ein Brötchen in der einen Hand, dick gefüllt mit Salat, Käse und Salami, die andere Hand dramatisch zur Faust geformt, gestikulierte er herum, während er eine wilde Geschichte erzählte. Passte. Poul hatte zwar die Soldaten- wie auch die Ritterausbildung mit Less gemeinsam begonnen und abgeschlossen. Als Adeliger hatte er die aber zwei Jahre früher beginnen können. Er war kaum älter als die Neuzugänge. Gleich dämlich.
„Hast du nichts zu tun, Milander?!“, fauchte Less auf halber Strecke.
„Näi, nicht so wirklich! Ist doch nie was los. Trotzdem schön, dich auch wieder einmal zu sehen“, antwortete Poul unbeeindruckt.
„Wenn du wüsstest“, schnaufte Less, aber keiner hakte nach.
Poul erzählte weiter. Less liess ihn machen, klaute Poul das Sandwich und nahm zwei wütende Bissen. Die Geschichte lenkte auch ihn etwas ab. Aber ausgerechnet Lauch fragte ohne Vorwarnung, ob Poul als halber van Niderborgen nicht auch die Dame Ira kenne. Less verschluckte sich am Brot. Poul klopfte ihm auf den Rücken und gurgelte dabei selbst leise.
„Ja schon, aber auch nicht so wirklich. Mein Vater wohnt mit uns allen in Waldauen und hat eigentlich gar nicht so viel Kontakt mehr.“
Less kriegte wieder Luft und er nutzte die, um die Frischlinge mit seinen Worten anzuspucken: „Was ist das für eine blöde Frage?! Natürlich kennt er sie! J-Jeder kennt sie, ihre finsteren Freunde und beschissenen Zaubertricks da unten am Sirring!“
„W-W-Wir dachten nur, n-na ja …“, nuschelte Lauch.
„Die werte Frau Marie hat erzählt, dass Ihr Zauberlehrling Henri zum Weinen gebracht habt! Also Ira hatte damit zu tun, weil sie Euch verflucht hat, aber viele sagen, dass Ihr es verdient habt und ähm … Näi, wir glauben das natürlich nicht, Herr Less! Aber wir dachten, dass wir Euch vielleicht helfen könnten, wenn wir …“
Glatze schien nicht mehr aufhören zu wollen mit ihrem Gefasel und eine Weile hörte Less ihr zu, auch wenn er nicht wirklich zuhörte. Die Worte prallten an ihm ab und sein Körper wurde starrer und starrer. Alles wirkte weit weg, unter seiner Haut juckte und brannte es, sein Hals war trocken und sein Körper kalt und –
„Es reicht!“
Die Frischlinge und selbst Poul wichen etwas vor ihm zurück. Less blinzelte.
„Für heute ist das Training beendet! Verschwindet, bevor ich es mir anders überlege!“
Sie widersprachen ihm nicht, schauten aber noch oft zu ihm zurück.