Ira dachte an die Zeremonie auf dem Sirring zurück. Sie war nur kurz dabei gewesen, denn mit dem Tod wollte sie sich nicht beschäftigen. Sie war eine hohe Schemenhexe, tote Dinge waren für sie ein Mittel zum Zweck, nichts weiter als eine Ressource. Es war die Lebenden, auf die sie sich achten musste. Sie waren jene, die sie noch beeinflussen und kontrollieren konnte. Darkeen war vom Heerführer besiegt und eingenommen. Aber der Heerführer scherte sich wenig darum, wer das Land nun regieren würde, solange die neue Regentin ihm treu sein würde. Er hatte den Schwarzen König getötet und die Finuerai hatte sich auf seine Seite gestellt und den Rest der Familie meucheln lassen. So zumindest ging das Gerücht. Offiziell war es eine Tragödie gewesen, ein Hinterhalt von dritter Seite, den niemand hatte kommen sehen. Und einige munkelten, dass auch sie damit zu tun gehabt hatte. Sie trauten Ira zu, die Schwarze Königin und ihre Kinder diesem Hinterhalt ausgeliefert zu haben. Schmeichelnd.
Nein, Ira hatte nicht von dem Hinterhalt gewusst und wäre sie nicht noch ein zweites Mal nach Liskia zurück, um diese dumme, junge Prinzessin aus dem Chaos zu retten … Was geschehen war, konnte selbst sie nicht ändern. Eigentlich war sie auch nicht traurig darum. Darkeens Königshaus hatte seine Schärfe noch mehr verloren als Iras Familie. Sie hatten den Drakar versprechen gegeben, ohne die tatsächlichen Probleme ihrer Geschichte aufzuarbeiten. Sie hatten sich als Freunde der niederen Leute präsentiert, sogar einen schmutzigen, verlogenen Tor aus dem Ödland zum Ritter ernannt. Früher oder später wäre auch ohne eine Störung von aussen, ohne einen Heerführer, so etwas passiert. Vielleicht war es Zeit für eine Wendung.
„Die Prinzessin ist unter der Obhut der Harpyienkönigin, richtig?“, fragte Ira nachdenklich.
„R-Richtig“, bestätigte Henri und das Glas in seinen Fingern zitterte.
Ira beugte sich vor und legte ihm eine Hand aufs Knie. Er hatte keinen Grund, sich in ihrer Anwesenheit unwohl zu fühlen. Sie hatte schon einigen Übel zugefügt, doch es war immer verdient gewesen. Und nie hatte sie ein Mitglied ihrer Familie auf eine Weise berührt, die jenes nicht gewollt hatte. Tonlos formte sie die Worte und liess einen Teil ihrer Energie durch ihre Finger zu ihm fliessen, lieh dem Jungen etwas ihrer Ruhe. Es zeigte direkt Wirkung, Henri entspannte sich und konnte lächeln.
„Richtig. Es war eine harte Verhandlung zwischen den Harpyien und den Barbarinnen. Aber Frau Springloss hat die Prinzessin und auch den Oberbefehlshaber unter ihren Schutz genommen. Der Harpyienkönig war zu ihrem persönlichen Schutz die letzten Tage über in Liskia. In einigen Tagen wird sie selbst noch einmal Nava und den Sirring besuchen. Sie will dann auch mit Euch sprechen, Ira, und euch offiziell dafür danken, dass Ihr die Stadt vor grösserem Schaden bewahrt und ihr Leben gerettet habt.“
„Wird sie sich dann auch vor dem Volk gegen die Gerüchte aussprechen, dass ich ihre Familie bewusst in einen Hinterhalt geführt habe?“, hakte Ira nach.
Henri zögerte, nicht aus Unsicherheit diesmal. Sie sah Zweifel in seinem Gesicht.
„… wart Ihr denn tatsächlich nicht involviert?“
Ira schmunzelte. Die Gerüchte waren falsch. Aber ihre Existenz gab ihr Macht. Sie trank aus und beugte sich vor, um Henri erneut das Haar zu richten.
„Es gab einst eine Zeit, mein Lieber, als ich mich sehr gut mit dem Onkel der Prinzessin verstanden habe. Leider waren seine Gefühle … anderer Natur als meine, und dann, nach der Tragödie in Waldauen, vermählte er sich mit einem Priester aus Friedbach – eine beinahe so dumme Entscheidung wie die Vermählung deines Vaters damals mit seiner treulosen Frau. Und dort ist doch wenigstens durch dich etwas Gutes entstanden, mein Junge.“
Noch immer hatte sie ihre Finger in Henris Haar und spielte damit. Er schaute sie an und sein Lächeln brach auf einmal. Er schob ihre Hand zur Seite und da wurde auch Ira wieder ernst.
„Ich war mit so einigen Entscheidungen aus Liskia nicht einverstanden, Henri. Aber ich wollte ihnen nichts Böses. Hätte ich es gewollt, hätte ich schon viel früher viel einfachere Wege gefunden. Ich brachte die Königin und vier ihrer Kinder nach Nava, in die Obhut der Finueraein, unter den alten Schutz des Sirrings, und sie bat mich, noch einmal nach Liskia zu gehen, um die Prinzessin ebenfalls von dort wegzubringen. Ich weiss nicht, was Frau Springloss dazu gebracht hat, Liskia zu verraten. Sie ist ein Wesen der Schemen, aber auch sie war zumindest einem der Königsfamilie nahe. Wenn jemand wirklich Schuld hat an allem, dann die Prinzessin selbst. Kaum mündig und schon musste sie ihrer Familie davonlaufen, musste heimlich herumhuren gehen und so den Teil meiner kostbaren Zeit verschwenden, den ich zum Schutz anderer hätte verwenden können.“
Sie seufzte, lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen.
„Das Land befindet sich auf wackeligen Beinen, mein Junge. Aber in welcher Weise es auch stürzen wird, wir können nur stärker werden. Gewiss, soll die Prinzessin nach Nava kommen und mit mir reden. Vielleicht wird sie genug verzweifelt sein, dass ich nicht nur deinen verdienen Platz als Hofzauberer, sondern sogar noch einen etwas höheren Platz bei ihr einfordern kann. Das wäre doch verlockend, nicht wahr? Liskia kann eine starke Hand benötigen und wir zusammen könnten ihr das bieten. Gerade aber sind es die Harpyien, die ihre Position besonders gut ausgespielt haben und denen wir gefallen sollten.“
Auch Henri seufzte. Als Ira die Augen öffnete, sah sie, wie er sein Glas nachfüllte und diesmal besonders voll machte. Er war ein guter Junge mit Potential. So formbar.
„Trink nicht zu viel, Henri. Es ist spät und für dich hat die Nacht eine andere Bedeutung als für mich“, ermahnte Ira ihn.
Sie nahm ein Zückerchen in die Finger, dann erhob sie sich und strich ihrem jungen Verwandten beim Vorbeigehen aus Prinzip noch einmal durchs Haar.
„W-Was habt Ihr denn noch vor?“, wollte Henri wissen.
Ira beantwortete ihm das nicht. Aber sie war sich sicher, dass er sich selbst etwas zusammenreimen konnte. Er war ein schlauer Bursche.
Sie verliess das Zimmer und lief zu ihrem privaten Gemach. Im Gang stieg ihr die Würze verschiedener Kräuter in die Nase. Ira musste wieder an ihre Kindheit denken. Ihre eigenen Eltern und Grosseltern, deren Gesichter inzwischen so verschwommen wirkten. Sie waren immer wohlhabend gewesen und doch hatte es sich damals besonders angefühlt, während der letzten Wintertage das Gemüse und die Gewürze von eigens erwählten Händlern aus dem Süden herbringen zu lassen. Jedes Jahr hatte es eine scharfe Suppe mit Brot gegeben, das mit Rosinen und Nüssen gefüllt war. Die Erwachsenen hatten auf einen sonnigen Frühling und ein gutes neues Jahr angestossen. So oft aber hatte statt der Sonne Nebel die Täler gefüllt. Und dann hatten sie ihr die Schuld dafür gegeben. Ihr und ihrer Neugier nach der tatsächlichen Geschichte des Landes. Ihr und ihren Ritualen hoch auf dem Sirring. Ihr und ihrem frischen Pakt mit dem Wächter der Stille.
Iras Zofe stand im Gemach und staubte mit grösster Vorsicht die Bücher und Andenken ab. Ira schloss die Tür und als die Zofe zusammenzuckte, fühlte sie sich bestätigt.
„Vergiss nicht, der Zodriba Lithrilkan genug Wasser und etwas vom Kräutermittel zu geben. Sie muss gut genährt sein, wenn sie im Frühling ihren Saft produzieren soll“, wies Ira die Zofe an, während sie schon mal aus ihren Schuhen stieg und ihre Ohrringe gegen ein Paar austauschte, das mehr Eindruck machte. Die Zofe nickte, trat dann direkt zu ihr, um ihr dabei zu helfen, aus dem Kleid zu kommen. Ihre Zofe hatte bei ihrer Ankunft auf dem Anwesen ein grosses Mundwerk gehabt und Ira hatte sie zwei, dreimal dabei erwischt, wie sie in ihrem Besitz gestöbert hatte. Ira hatte sie gelobt. Ohne eine Spur frecher Neugierde wäre aus niemandem etwas geworden. Dennoch hatte eine Ermahnung sein müssen. Die Zofe würde ihre Stimme wieder bekommen, wenn Ira sich sicher war, dass sie ihre Lektion gelernt hatte. Danach würde sie die Frau vielleicht sogar mit in die Stadt nehmen. Dort gab es genug andere, bei denen sie stöbern und ihr dann die spannenden Einzelheiten mitteilen durfte.