Selene konnte nicht verhindern, dass das Holz unter ihren Füssen knarrte, als sie den Steg ebenfalls betrat. Sofort fuhr die Skyre herum und legte eine Hand auf die Waffe an ihrem Gürtel. Als sie Selene aber sah, entspannte sich ihr Körper und die Hand wanderte zurück nach oben, mit der anderen vor der Brust verschränkt. Der Junge musterte sie kritisch und rückte den grossen, grünen Edelstein auf seiner Brust zurecht.
„Diener dürfen nicht ohne Bewilligung hier sein.“
„Ich bin kein Diener. Ich bin ein Gast“, korrigierte Selene.
„Ach … Gast woher?“, hakte der Junge nach.
„Shidria in Dahrfaorabey“, antwortete sie stolz.
Der Junge glaubte ihr wohl nicht, denn er zeigte mit dem Finger auf sie.
„Davon habe ich noch nie etwas gehört!“
Nun wollte auch Selene ihm nicht mehr glauben.
„Dann bist du sehr dumm!“
Er gab einen äusserst schockierten Laut von sich.
„Wie wagst du, mit mir zu reden?! Ich bin Reinhart Edmund Jono Kait, erster Sohn des grossen Königs Harald … Harald Frederik Kait III. von Aurena und der wunderschönen Königin Hafren Iri Stornbold!“
Selene benötigte einen Moment, um das zu verdauen, und war sich auch nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Aber sie wusste, dass ihre Antwort besser war als seine:
„Ich bin Selene Lilyoris Douhls, Tochter des Jägers Moris Niraig Midaeghney und der wunder-wunderschöneren Sternenpriesterin Lilya Sianeil Douhls! Das ist in meinem Land wie eine Prinzessin! Ich darf reden, wie ich will.“
„Kinder –“, ächzte der Engel, doch ein Schnauben des Prinzen liess ihn verstummen und auch Selene wollte nicht aufhören. Genau deswegen hatte sie alleine sein und nicht mit den Kindern spielen wollen! Die verstanden noch weniger von Bündnissen als sie!
„Du kannst keine Prinzessin sein!“, argumentierte Reinhart, als sie direkt vor ihm stand. „Die Dame Lycja, die Gebieterin von Herr Litzkin, ist wenn schon eine Prinzessin, weil sie sehr hübsch ist. Aber du bist etwa so schicklich angezogen wie eine Bäuerin.“
Diesmal japste Selene nach Luft. Er durfte sie mit einer Dienerin verwechseln. Aber ihr wunderschönes Kleid durfte er nicht beleidigen! Nicht das Nikiseughd auf ihrer Brust und die goldenen Spangen, die sie doch sogar von diesem Ort als Geschenk erhalten hatte! Das ging gegen ihre Ehre und die aller Shirricia!
Herr Litzkin öffnete wieder den Mund. Doch Selene hörte nicht auf ihn. Sie trat vor und stiess zu. Der Königssohn war schmächtig und hatte so etwas natürlich nicht erwartet. Er stolperte rückwärts und ehe die Skyre ihn erwischen konnte, war Reinhart vom Steg gefallen. Das laute Platschen vom Meerwasser brachte Selene zum Grinsen. Der junge Prinz hustete und keuchte, sobald er wieder an der Luft war.
„Bist du wahnsinnig?! Du bist keine Prinzessin, du bist eine Wilde! Jetzt werde ich mich grausam erkälten und du bist schuld!“
„Hu, Prinz Reinhart hat Angst vor Wasser? In Shidria gehen wir bei Schnee im See baden! Wir sind magisch und stark!“, lachte Selene.
„Du lügst!“
„Nah. Ich beweise es!“
Sie ging in die Knie und zog die grauen Stiefel aus. Sie legte sie sorgfältig zur Seite und trat an den Rand des Stegs. Natürlich war es nur die halbe Wahrheit. Einige ihrer Leute gingen durchaus bei Schnee baden, aber wenn sie das Wasser verliessen, waren sie rot wie reife Ribisel und Selene hätte da nie mitgemacht. Jetzt aber ging es um ihre Ehre und da konnte sie zumindest kurz einen Fuss ins Wasser strecken, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das machen würde. Es ging doch ein ganzes Stück nach unten. Herr Litzkin schaute sie an, sagte aber nichts mehr und rieb sich die Schläfen. Von der Burg drangen die Geräusche der Versammlung zu ihnen herunter, verzerrt und kakophonisch. Da waren Stimmen, Musik und –
Selene verharrte und starrte zu den Mauern hoch.
Schreie. Da waren auf einmal Schreie.
Selene erzitterte, als der Nebel einer schwarzen Wolkenwand wich, die immer grösser und grösser wurde und sich wie ein Strudel über der Burg drehte. Ein Blitz schlug im höchsten Turm ein, doch er war dunkel und blendete nicht, er entzog ihnen die Sicht, als er alles in Finsternis stürzte. Selene hörte nur noch ein ohrenbetäubendes Knirschen und Klirren, dann waren sie auf einmal alle da. Bilder, so viele Bilder drückten in ihrem Innern und da war wieder die Angst, begleitet von Schmerz und alles war scharf, ein Meer aus Scherben, das über ihr zusammenbrach!
Selene schrie und krümmte sich. Sie drückte die Hände an den Kopf und schüttelte sich. Es war zu viel, beraubte sie jeglicher Orientierung und liess sie schutzlos zurück. Sie konnte nicht sehen, was am Steg geschah, doch sie sah den Hof und die Apfelbäume, die Halle mit den Vertretern. Zarte, helle Hände und auch grobe, voll mit dunklen Linien. Sie waren beide blutig. So viele Gesichter, von Panik verzerrt, rot. Ihr Vater. Selene schrie nach ihm, wieder und wieder, doch er konnte sie nicht hören. Vor ihrem Sichtfeld verschwamm alles immer mehr und ihr wurde übel. In der Ferne rief jemand nach ihr. Sie schlief nicht und sie hatte ihren Geist nicht willig auf Reisen geschickt und doch prasselte auf einmal so viel mehr auf sie ein als in all ihren bisherigen Träumen. So viel grässlicher war alles! Sie kriegte keine Luft mehr!
Sie öffnete die Augen. Sie kauerte am Rande des Steges. Die goldenen Spangen hatte sie sich versehentlich aus dem Haar gerissen. Nun lagen sie auf dem Holz. Ihr war immer noch übel. Als sie mit dem Ärmel über ihren Mund wischte, bemerkte sie dunkle Schlieren auf dem Stoff.
„Selene! Prinzessin Selene!!“
Sie sah hinunter. Reinhart war noch im Wasser. Er klammerte sich an das Holz, schlotterte und versuchte nach ihr zu greifen, doch sein Arm war zu kurz. Nur kurz getraute Selene, über die Schulter zur Burg zu blicken. Die Finsternis war echt und die Magie war echt, sie lag nun auf einmal überall, stark und bedrückend. Die Schreie waren so laut und Herr Litzkin lag in einem der Blumenbeete an der Treppe, eine vogelähnliche Gestalt war über ihm. Sie war nicht alleine, auch andere waren in den Gärten erschienen. Monster! Woher kamen sie auf einmal? Was war passiert?!
Selene versuchte die aufkommenden Gefühle zu unterdrücken, auch wenn ihr bereits jetzt Tränen über das Gesicht rannen. Sie robbte nach vorne, bis nur noch die Beine sie auf dem Steg hielten. Sie klemmte ihre Zehen zwischen die Holzplanken, biss die Zähne zusammen und streckte ihre Hände nach dem Prinzen aus.
„Prinz Reinhart! Pack zu! O-Oder schwimm ans U-Ufer! Du kannst schwimmen, Reinhart?!“
Sie mussten weg, so weit weg wie möglich! Sie musste Moris finden! Mit ihm in den Schatten verschwinden, bis es wieder sicher war!!
Reinhart erwischte ihre Finger und sie zog so fest sie konnte. Er hielt sich fest, an ihr und auch am Steg selbst und Selene glaubte, dass sie ihn schon fast genug weit hatte, als das Wasser um ihn sich komisch zu bewegen begann. Verständnislos starrte Selene nach unten, aber da war es schon zu spät! Eine Welle ergriff den Prinzen und riss ihn mit sich. Er entglitt ihren feuchten Fingern und dann war er weg. Die Welle zerrte ihn davon, vom Ufer weg in die Tiefe. In den Abgrund der Schemen.
„Reinhart! Halt! Nah! Herr Litzkin, Hilfe! Vater! Vater, Hilfe!!“, kreischte Selene.
Niemand kam. Sie sprang auf und obwohl sich die ganze Welt drehte, wollte sie hinterher. Sie musste irgendetwas tun! Sie musste dem Prinzen helfen! Sie war doch schuld daran, dass er ins Wasser gefallen war.
Krallen bohrten sich in ihren rechten Arm und rissen sie zurück. Selene hörte den Stoff ihres Jungpriesterinnengewands reissen, dann spürte sie das morsche Holz in ihrem Rücken. Sie konnte das Monster über ihr nicht erkennen, nur einen dunklen Schemen sehen. Doch sie wusste, dass es bewaffnet war. Sie schrie und trat nach dem Angreifer.
Wo war Moris? Warum war er nicht hier?!
Ihr Angreifer wurde von etwas getroffen. Er kippte und der Steg war wieder leer. Selene merkte es und trotzdem schrie sie weiter und zappelte und weinte. Eine neue Gestalt beugte sich über sie, doch diese Gestalt besass weisse Flügel und keine Krallen, mit denen sie ihr wehtun konnte. Selene erschlaffte, aber sie hörte nicht auf zu weinen. Ihr Arm schmerzte. Ihr war übel. Herr Litzkin hob sie hoch und flog los.
„Setz dich ein Stück entfernt ab, mehr geht nicht“, schnaufte er. Selene konnte sein Gesicht nicht sehen, doch seine Stimme klang gepresst.
„Mein Vater wird –!“
Einer der düsteren Blitze schnellte auf sie zu. Herr Litzkin versuchte auszuweichen, kauerte sich dabei zusammen und hielt sie fest in seinen Armen. Aber es half nicht. Der Blitz traf sie beide. Für einen kurzen Moment war Licht um sie herum und Selene sah einzelne, glanzlose Federn über ihr im Wind, als sie aus Herr Litzkins Griff rutschte und stürzte. Dann fing das Meer sie auf. Es war so dunkel. Und kalt. So kalt.