Die letzten Wintertage waren lang und eintönig. Sie erhielten am Morgen und am Abend einen Becher Wasser. Manchmal zwei, manchmal gar keinen. Je nach Lust und Willkür ihrer Bewacher. Sie sassen in ihren Zellen, fanden selten lange ein beschäftigendes Thema, irgendeine Ablenkung. Am Mittag wurden sie in den Innenhof gelassen, konnten sich die Beine etwas vertreten, Sonne tanken, grauen Brei und ganz selten etwas Brot zu sich nehmen. Nach dem Mittag wurden sie in die Tiefen geworfen, schürften in der Finsternis nach den Kristallen, fern von jeglichem Zeitgefühl. Dann ging es zurück in die Zellen, müder und stärker ausgezehrt, als selbst die schwere Arbeit ihnen hätte zusetzen sollen. Es war, als würde der Untergrund ihnen aktiv Energie absaugen.
Für Less waren die letzten Wintertage kurz und unberechenbar. Er wachte früh auf, trainierte seine Arme und Beine, seine Kraft und Ausdauer, sein Gehör und sein Gleichgewicht. Er lauschte anderen im Zellenblock, Wachen sowie Mitgefangenen. Fand heraus, wer von ihnen ebenfalls Mittländisch sprechen und verstehen konnte. Am Mittag nahm er Anna und Miller jeweils zur Seite, weg von Lisa und ihren Vimmern. Sie schienen die einzigen Darken zu sein, zumindest in diesem Block. Less hätte nie geglaubt, wie bedauernd er das einmal finden würde. Er tauschte sich mit ihnen aus, beruhigte sie wann nötig und mahnte sie, wenn sie zu unvorsichtig waren. Dann erst setzten sie sich zu dritt zu anderen, lächelten und spielten hoffnungslos. Vor Lisa konnten sie die Pläne natürlich nicht verbergen, nicht solange sie doch täglich direkt in der Zelle ihm gegenüber stand und ihn beobachten konnte. Immer wieder mit Anna in der eigenen Zelle zu reden begann und mehr und mehr von ihr wissen wollte. Vor dem Nicht-Dämon in der anderen Zelle konnte Less nicht einmal auf Mittländisch Dinge verbergen. Er konnte beiden nicht trauen. Aber dieses Risiko musste er eingehen.
Less holte viele Bergkristalle und Turmaline aus der Tiefe. Wenn die Aufpasser zufrieden mit der Arbeit waren, hatte er danach seine Ruhe, erhielt etwas mehr Wasser und vielleicht sogar ab und zu eine zusätzliche Portion Brei. Gleichzeitig aber sammelte er auch für sich selbst. Erst nur den einen und anderen etwas schärferen Stein, den er in der Hose verstecken konnte, bis er zurück in der Zelle war. Dann einen langen Eisennagel, den er aus einem der Balken hatte reissen können und nun mit dem Verband an seinem Bein festbinden, so verbergen konnte. Er merkte sich jeden Weg, jede Ecke. Tauschte sich mit anderen darüber aus und zeichnete so im Kopf den Grundriss des Areals. Es war ein gefährliches Vorhaben. Die Darken würden früher oder später einen Fehler machen. Aber bald war es so weit. Bald waren sie weg und dann hatte sich das Risiko gelohnt.
„Heute ist es so weit, nicht wahr, Herr Less?“, hauchte Anna ihm zu, sobald sie im Innenhof im spärlichen Schatten standen und nicht mehr direkt eine Wache im Rücken hatten. Sie und Miller waren trotz der Südsonne bleicher denn je. Die eine Stunde am Mittag reichte nicht, kam nicht gegen die Wirkung der Stollen an.
„Ist es. Aber wissen das auch andere?“, entgegnete Less harsch.
Sie schüttelte den Kopf und mit etwas Verzögerung tat auch Miller das.
„Hab verbreitet, dass zu Jahresend etwas passieren wird“, versicherte Anna.
„U-Und Zeckora habe ich gesagt, d-dass ich g-gar nichts weiss. Also i-ich hab es … versucht. Ich bin k-kein guter L-L-Lügner und er ist h-halt schon … anhänglich“, nuschelte Miller.
Less verkniff sich dazu einen Kommentar. Er musste schliesslich jeden Morgen und Abend Zeuge davon werden, wie der Nicht-Dämon an Miller klebte und seine nicht-vorhandenen herausragenden Eigenschaften und jämmerlichen Eigenarten lobte.
„Ich werde noch einmal mit Lisa reden. Ihr tut bis zu meinem Zeichen gar nichts dergleichen, verstanden? Denkt an das Training früher.“
Diesmal nickten die beiden. Less klopfte ihnen auf die Schultern und schaute sie noch einmal direkt an. Sie waren nicht viel, aber er war ihr Ausbilder und sie die einzigen, die er sicher hatte gegen den Feind. Er war den Umständen entsprechend zufrieden. Zumindest bis Zeckora sich ihnen näherte. Es war das erste Mal, dass der Nicht-Dämon ebenfalls zu Mittag bei ihnen im Innenhof ankam. Less wusste nicht, wohin er bisher immer verschwunden war. In ihm kam ein Schaudern auf, der Drang seinen Plan aufzugeben, zu rennen. Er schluckte, schob seine Zweifel fort und setzte ein gehässiges Grinsen auf.
„Ho? Schmiedet ihr wieder auffällig Pläne?“, fragte Zeckora.
„Ja. Pläne, um dich loszuwerden, Sudel-Dämon“, antwortete Less.
„Seraei, nicht Sudel. Und immer noch kein Dämon“, erwiderte Zeckora und hakte sich bei Millers Arm ein. Der zog daraufhin die Schultern an, kniff die Lippen zusammen und starrte unglaublich auffällig Less an. Anna tat gar nichts dergleichen, sondern drehte sich direkt um und marschierte zu ihrem gewohnten Mittagsflecken. Less folgte mit den anderen im Anhang.
„Hast du heute nichts besseres zu tun, Sudel-Dämon?“
„Besser als mit einer Karotte zu reden? Jupp, definitiv, immer, sowieso. Aber könnten wir uns alle unser Schicksal aussuchen, dann wären wir kaum hier, näh?“
Less knirschte mit den Zähnen, sprach die Beleidigung in seinem Kopf nicht aus.
„H-Herr Less hat a-aber … er hat schon recht. Du bist sonst nie hier. W-Wo bist du sonst, Kora?“, mischte Miller sich unerwartet ein und seiner leisen Frage folgte lange nichts.
Less hoffte beinahe, der Darke hätte die magischen Worte gefunden, die Seraei zu vertreiben. Er stoppte, drehte sich nur langsam um. Miller und seine Klette waren noch da, hatten aber schon zwei-drei Meter vor ihm angehalten. So ein ungleiches Paar. Einer auf ganzer Länge unglaublich unterdurchschnittlich. Die andere alles ausser durchschnittlich. Zusammen aber wirkten sie gleichermassen harmlos und verloren. Less verdrehte die Augen, lief zu ihnen zurück, um zumindest den Darken, wenn es denn sein musste, am Unterhemd weiter zum anderen Ende des Hofes zu zerren.
„… der oberste Aufseher schätzt meine Anwesenheit während der Mittagsstunde“, verriet Zeckora endlich und zum ersten Mal konnte Less weder Schalk noch Genöle oder sonst eine kindische Intonation aus seiner Stimme herausfiltern. „Er sagt, Brei und Sonnenbrand würden mir nicht bekommen. Heute ist er aber nicht da. Wusstet ihr das?“
„Hätte ich den Verantwortlichen für all das hier überhaupt schon einmal gesehen, hätte ich den Scheisser direkt aufgeschlitzt“, knurrte Less.
„Er ist heute nicht da“, wiederholte Miller etwas abwesend.
„Ich … könnte euch gut behilflich sein“, wisperte Zeckora und tippte gegen das runde Amulett am Hals. Es schien ihm direkt auf der Haut zu kleben und das Band lag ebenfalls eng. Less war einmal mehr daran erinnert, dass er nicht wusste, was eine Seraei tatsächlich war, ob nun Dämon, Lichtwesen oder gar nichts davon. Hier in diesem Käfig hätte man ihm erzählen können, Vvastas Monde wären endgültig vom Meer verschlungen worden und er hätte es nicht kontrollieren können. Alles war ein Risiko. Eine Gefahr.
„Ihr müsst nur auf eurem Weg auch einen finden, mein Bannamulett zu lösen und … ich würde euch helfen. Das ist kein Trug und kein Locken.“
Miller beugte sich vor und zog vorsichtig an dem Metall, aber es rührte sich nicht. Less zögerte, schüttelte dann den Kopf und drehte sich eilig zurück nach vorne.
„Ich werde darüber nachdenken.“
Ein Bann also. Selbst wenn er gewollt hätte, sah er keinen Weg. Es erinnerte ihn nur an seinen eigenen Fluch und schickte ihm Säure die Speiseröhre hinauf.