Es war Mitte Spätwinter, das Jahr neigte sich dem Ende zu. Für Less hatte sich wenig geändert. Für das Mittelland hingegen … da war viel passiert. Less hatte es ihnen vorausgesagt und trotzdem waren alle überrascht gewesen, als Gundra gefallen war. Wie lange hatte das Heer widerstand geleistet? Drei Tage? Zwei? Das Yarr selbst soll erschienen sein und die Goldburg verschlungen haben. Darkeens stärkste Verbündete war besiegt. Und trotzdem wollten die Darken nicht daran glauben, dass sie ebenfalls verlieren würden.
Seit der Eroberung Gundras war es ruhig und die Darken hofften, dass es vorbei war. Für Less aber war gar nichts vorbei. Der Fluch klebte weiterhin an ihm. Langsam gewöhnte er sich daran, doch sein neues Aussehen hatte ihn noch mehr zu einem Aussenseiter gemacht. Schon mehrfach hatten welche vom Volk und erst recht vom Adel ihren Frust gegenüber den Dämonen und dem Schreckensgespenst der Heerschar an ihm ausgelassen. Less hatte sich damit abgefunden. Aber lange warten würde er nicht mehr. Seine Sachen waren schon seit Wochen gepackt.
Gerade aber stand er auf dem kleinen Marktplatz am Brunnenrand. Zu seiner rechten Seite lag Jeannes letzte Flasche Vetseg. Sie hatte keine neuen Geschenke mitgebracht mit ihrer letzten Reise, diese eine Flasche war aber noch übrig gewesen. Zu seiner linken Seite sass Poul, der ausnahmsweise sehr schweigsam getrunken hatte. Das hohe Volk hatte sich in die Burg gedrängt, um den Geburtstag der Prinzessin zu würdigen. Der Rest verteilte sich auf die Kneipen, Tempel und sonstigen Freudenorte der Stadt. Less wollte weder mit den einen noch den anderen feiern. Eigentlich hätte es ihn nicht gewundert, wenn gleich jetzt auch Liskias Burg vom Nichts verschlungen worden wäre. Aber der Himmel war ruhig.
„Less. He, Less … Wollen wir tanzen?“, fragte Poul lauter als nötig.
„Warum?“, fragte Less zurück und zog seine Wintermütze so tief wie möglich über die Ohren. Es half weder gegen die Kälte noch gegen Pouls Lautstärke.
„Einfach so. Weil heute gefeiert wird und ich traurig bin“, antwortete Poul.
„Pfs“, machte Less, hinderte Poul aber nicht, als der ihm den Kopf auf die Schulter legte. Diesmal war Poul der mit dem Liebeskummer. Es war Less nicht so angenehm, aber Poul hatte ihm auch lange wegen der Hexe zuhören müssen. Es war besser geworden, die Schemen tauchten seltener auf. Doch vergessen konnte Less sie des Fluches wegen nicht.
„Später vielleicht. Und reiss dich etwas zusammen, Milander.“
„Wie denn? Meine Rena ist zurück in den Norden, weit fort!“, jammerte Poul.
„Sie ist nicht wirklich fort. Hat sie dein Verlobungsgeschenk nicht angenommen?“
„Das schon, aber ich vermisse sie schon so sehr, Less! Was ist, wenn sie jemanden trifft, der viel besser und schlauer ist als ich? Wenn sie nie mehr nach Gahlaria kommt, weil hier alles vor die Hunde geht? Was, wenn wir … w-wenn der Krieg kommt und –!“
„Ich habe eine einfache Lösung für dich, Poul“, unterbrach Less. „Du packst gleich jetzt deine Sachen und gehst ihr nach! Sie wird sicher noch nicht einmal über die Grenze hinweg sein. Wenn sie überhaupt schon los ist.“
Poul starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und stellte sich schwerfällig auf die Beine. Less streckte einen Arm aus, um ihn zu stützen. Poul ging nicht darauf ein.
„Aber das geht doch nicht!“, japste er.
„Warum nicht? Ich werde auch nicht mehr lange bleiben.“
„Wir haben eine Verpflichtung, Less! Wenn wir nicht da sind und aufpassen, wird unser Land erst recht überfallen! Ich habe einen grossen Eid geschworen!“
„Na und? Wir nützen gerade keinem was und es interessiert auch niemanden. Du kannst bleiben oder gehen, wie du willst. Aber ich verschwinde morgen. Hab alles bereit“, warf Less ihm die ungewürzte Wahrheit vor die Füsse.
Poul starrte immer noch. Less hielt seinem Blick stand. Letzten Endes seufzte sein Freund geschlagen und sackte vornüber, so dass sein Gesicht Less auf der Brust landete. Es tat Less beinahe leid. Poul kannte nur seine kleine heile Welt und glaubte blind daran, dass seine Anwesenheit einen Unterschied machte.
„Ich hoffe im Fall nicht, dass du das ernst meinst. Dann wäre ich tatsächlich ganz alleine“, brummelte Poul und stellte sich nur langsam wieder gerade hin. „Wenn du aber wirklich gehen willst, dann sollten wir heute erst recht feiern! Tanz mit mir!“
Auffordernd, vielleicht auch etwas bettelnd, hielt Poul ihm die Hände entgegen. Less war aber nicht nach so was. Er hätte lieber weiter getrunken. Sich abgehärtet.
„Hat nicht mal Musik hier, du dummer Darke.“
„Dann gehen wir halt in den Biber! Da hat es Musik!“, schlug Poul vor.
„Da hab ich keine Lust drauf“, erklärte Less.
„Du hast nie Lust auf etwas! Wann hast du das letzte Mal richtig gefeiert, Less?!“
„Ich feiere doch gerade und –“
Pouls Ohrfeige kam sehr abrupt. Sie tat nicht weh und doch hielt Less irritiert inne.
„Trug und Unfug, du willst deinen besten Freund verlassen und ihm nicht einmal einen letzten guten Abend gönnen! Du warst richtig scheisse zu mir und ich war trotzdem da und so willst du es mir danken! Ich kann dir genau sagen, wann du das letzte Mal richtig gefeiert hast, denn ich war dabei!“, blaffte Poul ihn unerwartet aggressiv an. „Unsere Abschlussfeier vor fast einem Jahr, Less! Da konntest du feiern und wir hatten alle Spass bei Frau Margarete zuhause! Weisst du das noch?! Weisst du noch, wie gut wir es hatten?!?“
„Natürlich weiss ich das noch! Aber das hat nichts mit uns jetzt zu tun!“
Less stiess Poul etwas auf Abstand und knurrte. Was hatte der für ein Problem?!
Für einen kurzen Augenblick schaute Poul aus, als würde er auf ihn losgehen wollen. Dann aber senkte er seine Hände und schüttelte den Kopf. Er kam näher und Less liess ihn wieder gewähren, wenn er auch bereit war, Poul im Notfall in den Brunnen zu werfen.
„Ich wollte nicht laut werden“, entschuldigte sich Poul leise. „Mich macht die Gesamtsituation nur so unglaublich nervös. Ich habe Angst davor, dass der Feind auf einmal auch bei uns ist. Damals war es so schön. Wir waren endlich offiziell Ritter, wir beide, und ich dachte, dass wir unsere Stadt und auch die ganze Welt besser machen könnten. Wir würden Vorbilder für die guten Leute sein und die Verbrecher würden nie mehr etwas wagen … Vielleicht hätten wir noch einen Drachen erlegen oder wenigstens eine Schar Gnome aus der Stadt vertreiben müssen. Doch jetzt fühle mich gar nicht mehr mutig und stark.“
Auch Less hatte sich das anders vorgestellt. Er hatte sich so viele Dinge anders vorgestellt, als er frisch nach Darkeen gekommen war. Auch er hatte gedacht, dass er ein Held sein würde. Dann war Ira gekommen und hatte ihm gleichzeitig so viel gegeben und so viel genommen. Er war weder mutig noch stark, nur ein Narr. Er war so stolz gewesen, als er es dennoch zum Ritter gebracht hatte. Es war tatsächlich der letzte Abend gewesen, an dem er richtig gefeiert hatte. Ein so dummer, blöder Abend.