Start: 20:00 Uhr
Ende: 20:55 Uhr
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"Bist du dir sicher, dass du das wirklich möchtest?"
Iris Paul hat sich ein Glas Wein eingeschenkt, die Neuigkeiten ihrer Tochter muss sie erstmal verdauen.
Schon immer seit jeher hat sie ihren ganz eigenen Kopf. Sie kann sich gut an die quirlige Sechsjährige erinnern, die um jeden Preis Ballett tanzen wollte. Monatelang hat sie den Eltern damit in den Ohren gelegen, bis sie eingewilligt hatten. Mit vollem Ehrgeiz hatte sie immerhin drei Jahre durchgehalten und auf Zeit mit den Schulfreundinnen für ihren Traum verzichtet. Von einen Tag auf den anderen war es vorbei gewesen. Mit zwölf hatte sie dann für ihr nächstes Hobby gekämpft, dafür gar eine Taschengeldreduzierung in Kauf genommen. Erst mit siebzehn hatte sie das Reiten aufgegeben, weil ihr ein gutes Abitur wichtiger gewesen war. Im anschließenden Studium hatte sie sich völlig fokussiert. So sehr, dass selbst ihr Vater angemerkt hatte, dass man das Studentenleben durchaus auch genießen durfte. Doch Isabelle hatte Ziele gehabt und diesen alles andere untergeordnet. Selbst ihr langjährige Beziehung zu ihrem Jugendfreund war darüber in die Brüche gegangen. Für die Auftritte im Kinderballett, den Springturnieren, dem Vorzeigeabitur und dem Abschluss mit summa cum laude hatte sie auf vieles verzichtet und durchaus sind Iris und ihr Mann stolz auf sie. Nebenbei ist sie eine tolle junge Frau geworden, die mit beiden Beinen fest im Leben steht und das Herz auf dem rechten Fleck trägt. Jetzt, als junge Mutter, hat sie Kinderlachen ins Haus gebracht.
"Ob ich möchte, Mama? Was für eine Frage, die stellt sich mir gar nicht." Entschlossen schiebt sie ihre Locken zurück. "Außerdem frage ich euch nicht um Erlaubnis. Ich würde es aber schön finden, wenn wir eure Unterstützung hätten."
Schnell nimmt Iris einen Schluck Wein.
"Das weiß ich, mein Kind. Ich möchte nur sichergehen, dass ihr euch das gut überlegt habt. Es ist immerhin ein großer Einschnitt", merkt sie an.
Seufzend setzt sich Isabelle auf den Barhocker neben ihrem.
"Natürlich ist es das. Das ist uns bewusst. Uns beiden. Aber es ist vielleicht der genau richtige Zeitpunkt. Und glaube mir, wir habe es uns nicht leicht gemacht. Aber was wäre die Konsequenz?" Sie greift nach der Wasserkaraffe.
"Abe er um welchen Preis?", flüstert Iris.
Energisch setzt Isabelle das Glas auf dem Tisch ab.
"Um den höchsten, Mama. Es geht um meine kleine Familie, um die Liebe meines Lebens. Ich bin bereit alles dafür zu tun, dass wir Ruhe finden. Und wenn wir dafür neu anfangen müssen, dann bin ich auch dafür bereit. Wgal wo, egal wie."
Ihre Augen blitzen leicht angriffslustig und Iris wird bewusst, dass sie nur aus einem Grund so heftig reagiert. Natürlich hat sie Zweifel. Aber sie möchte das Richtige tun.
"Du gibst viel auf", wirft Iris schließlich ein. "Deine Heimat, deinen guten Job, uns, dein ganzes Sozialleben."
Kopfschüttelnd rutscht Isabelle wieder vom Hocker.
"Nein, Mama. Das alles ist weiterhin wichtig für mich. Aber dort ist auch Familie, eine Heimat. Ich gewinne auch. Nämlich das Lachen meines Mannes. Hier sind wir in einer Sackgasse. Ja, es wird sicherlich am Anfang schwierig sein. Auch das ist uns klar. Die Arbeit an der Stiftung hat Spaß gemacht und mir viel gegeben. Ich habe viel gelernt und dennoch habe auch ich das Gefühl, dass es Zeit für was neues ist. Natürlich muss ich noch herausfinden, was genau ich nach der Elternzeit machen möchte, wo ich mich sehe. All das wird sich finden. Es gibt immer einen Weg, immer eine Lösung."
Isabelle hat sich an die Arbeitsplatte gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt.
Iris leert erst das Glas, dann atmet sie durch.
"Wenn du dir etwas in de Kopf gesetzt hast, dann kann man dich sowieso nicht mehr davon abbringen. Natürlich stehen Papa und ich hinter dir. Hinter euch. Wir werden dich vermissen und wir haben natürlich auch Sorge. Gib dich nicht auf, Isabelle. Es darf auch mal um dich gehen. Bei allem Verständnis für eure Situation." Versöhnlich sieht sie der Tochter in die Augen. "Dann erzähl mir mehr", fordert sie die Jüngere auf.
Endlich ein Lächeln. Iris sieht gespannt zu, wie Isabelle zur Mappe neben sich greift. Die Pläne für den Umbau, Berechnungen für den finanziellen Spielraum, es sprudelt nur so aus Isabelle heraus. Mit viel Zuversicht berichtet sie, wie das neue Leben aussehen könnte. Auch eine wage Idee vertraut sie der Mutter an. Beide haben die Fühler ausgestreckt, mit was sie in Zukunft Geld verdienen könnten und ein wenig kann Iris die Euphorie dann nachvollziehen. Schlussendlich ist sie halbwegs überzeugt, dass das Paar keine übereilte Entscheidung getroffen hat. Aber eine Sache muss sie loswerden, ehe Isabelle sich verabschiedet.
"Ihr könnt jederzeit zurück kommen, das solltet ihr wissen. Falls irgendetwas schief geht, dann sind auch wir da für euch."
Isabelles blickt ist voller Dankbarkeit, als sie ihre Mutter in die Arme zieht. Verlegen wischt sich Iris eine Träne aus dem Augenwinkel. "Wir wollen doch nur das Beste für dich, Schatz", ergänzt sie leise.
"Das wissen wir, Mama. Auch das ist beruhigend. Glaub mir, ich habe mir viele Nächte um die Ohren geschlagen. Da sind viele Unbekannte. Doch ich spüre, dass wir es versuchen müssen. Jetzt und nicht irgendwann. Es geht nicht um ihn oder mich, sondern um uns. Und das möchte ich so fest halten wie nur möglich. Mit aller Kraft und ja, um jeden Preis. Wir haben uns versprochen, dass wir notfalls eine Reißleine ziehen. Aber würden wir es nicht wagen, dann würden wir uns irgendwann Vorwürfe machen."
Isabelle hat die Mappe wieder zugeklappt. Mit einem Mal ist Iris furchtbar stolz auf ihre Tochter. Auf deren Mut und Optimismus. Und sie weiß, dass jene es mit vollster Überzeugung angehen wird.