Start: 18:00 Uhr
Ende: 18:56 Uhr
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Nikolai Ruklov ist großer, hagerer Mann. Der Schädel kahl rasiert, dunkle klare Augen, ein messerscharfer Blick. Sein russischer Akzent hallt schwer durch die Gänge, wie immer ist sein Deutsch mit englischen Vokabeln gefärbt. Er strahlt Autorität aus, alle hören ihm genau zu. Er legt wie jeden Abend wert auf Pünktlichkeit und Konzentration. Wer glaubt, dass Premieren spannungsgeladen sind, hat noch keine Derniere erlebt.
Der, wie fast immer, ganz in schwarz gekleidete Regisseur hat sein Ensemble zur letzten Vorbesprechung geladen. Am Bühnenausgang stehen schon die Trucks, die nach der Vorstellung direkt mit dem Verladen des Bühnenbildes, der Kostüme und der Requisiten beginnen werden. In wenigen Stunden wird nichts mehr an das Gastspiel in diesem Haus erinnern.
Er steht in der Mitte des Kreises auf der Bühne. Blickt in die Gesichter und nickt zufrieden. Alle sind da, alle pünktlich eingeschrieben und die Stellprobe ist bereits absolviert. Für die Solisten steht gleich der Soundcheck an, alles wie immer. Und doch eben ein besonderer Abend. Nochmal erinnert er daran, dass er auch heute von jedem eine Leistung auf den Punkt erwartet. Ein letztes Mal wollen sie diese Geschichte erzählen, das Publikum mitreißen und ein wenig vom Alltag entführen. Er bedankt sich für die gute Zusammenarbeit und die erlebte Zeit.
In den Garderoben herrscht ein wenig mehr Unruhe als sonst. Auch die Maskenbildner und Dresser sind heute besonders gefordert, ebenso die Assistenten. Alles was nicht mehr gebraucht wird, kann schon während der laufenden Vorstellung gepackt werden. Bereits gegen Mitternacht werden die ersten Utensilien der nachfolgenden Produktion eintreffen.
Er wohnt ein letztes Mal dem Aufwärmprogramm des Tanzensembles bei, sieht beim Einsingen nach dem Rechten und erteilt hier und da letzte Anweisungen.
Dann zieht er sich in sein Regiebüro zurück. Der Schreibtisch ist schon aufgeräumt, die Kiste mit seinen persönlichen Gegenständen steht am Boden. Nur die obligatorische Wodkaflasche wartet noch auf ihn. Es ist sein Ritual. Ein kleines Glas vor, ein etwas größeres nach jeder Vorstellung. Manchmal, aber ganz selten, eines in der Pause. Wenn irgendwas nicht gut lief zum Beispiel. Oder auch, wenn etwas ganz besonders gut gelungen ist. Daneben der letzte Besetzungszettel, den er noch zum Verteilen im Foyer frei geben muss. Er setzt sich an den Tisch, füllt das Glas und geht die Namen durch. Wieder viele neue Talente, denen er eine Chance gegeben hat. Alle werden ihren Weg gehen. Einige wird er wieder treffen, da ist er sich ganz sicher. Sein Blick bleibt ganz oben hängen, an der Hauptrolle. Er wird ein wenig wehmütig. Für Nikolai Ruklov ist eine letzte Vorstellung eines Stücks, für den obersten Namen ein Abschied vom regelmäßigen Bühnenbetrieb. Ein besonderer Abend eben.
Alex Sander ist nervös. Er, der ansonsten doch recht sachliche Künstleragent und Konzertveranstalter kann nicht leugnen, das ihn das hier und heute nicht kalt lässt. Er steht etwas abseits hinter der Bühne und kann von seinem Platz beobachten, wie sich der Saal füllt. Ausverkauftes Haus, das Stück an sich hat die Herzen des Publikums über die letzten Wochen erobert. Dazu Kritiken, die mit Lobeshymnen nicht gespart haben. Der Mut des russischen Regisseurs hat sich erneut ausgezahlt. Alex Sander weiß, dass Nikolai Ruklov sich damit ein Denkmal gesetzt hat und da er sich schlauerweise auch die Rechte gesichert hat, dürfte sich sein finanzielles Risiko mehr als gelohnt haben. Es mag hier und heute eine Derniere sein, aber er ist sich sicher, dass es nur ein vorübergehender Abschied ist. Zumindest für Ruklov und das Stück. Wohin später die Trucks ihre Fracht fahren entzieht sich seiner Kenntnis. Aber ganz bestimmt hat Ruklov schon Pläne. Pläne, über die er wie gewohnt erst spricht, wenn sie konkret genug sind.
Sein Blick geht über die Bühne. Ein Techniker kontrolliert die Markierungen am Boden und hebt dann den Daumen in Richtung Inspizient. Alles ist hier nun bereit. Links und rechts auf den Seitenbühnen werden letzte Vorbereitungen an den Blackboxen abgeschlossen, über den Lautsprecher werden die letzten fünfzehn Minuten angesagt.
Zeit in die Garderobe zu gehen. Ein letztes Mal. Alex Sander kann gar nicht sagen, wie oft er dies in den letzten zehn Jahren getan hat. Durch alle Höhen und Tiefen hat er begleitet, war vor Ort wenn er gebraucht wurde. Er schlängelt sich an wartenden Tänzer und Tänzerinnen vorbei, trifft auf der Treppe bekannte Gesichter. Für einen jeden wird die Reise weitergehen. An einen anderen Ort, in eine andere Produktion, auf eine andere Bühne. Auch für ihn wird sie sich fortsetzen. Schon übermorgen ist er bei einer Premiere eines anderen Schützlings. Aber mit niemandem verbindet ihn ein solcher Weg, eine so intensiver Freundschaft. Diese wird bleiben, aber sich auch verändern. Heute ist er hauptsächlich als Freund hier. Denn dieser Abschied tut weh, auch wenn er lange geplant ist.
Jan Lehmann steht am Fenster seiner Einzelgarderobe. Auch hier sind die Habseligkeiten schon gepackt, nur die private Kleidung liegt über einem Sessel, der Rucksack auf dem Schminktisch. Es ist ein seltsames Gefühl. Eine letzte Vorstellung, wie so oft zuvor in seinem Leben. Aber eine letzte Vorstellung, die eben nicht bedeutet, dass er ein Stück oder ein Haus verlässt. Es ist so viel mehr. Eine sehr bewusste Entscheidung. Er hat versucht, jeden letzten Schritt sehr bewusst zu gehen.
Das letzte Einschreiben, der letzte Mikrocheck, das letzte Einsingen samt Soundcheck, ein letztes Mal Maskenzeit, ein letztes Mal in ein Kostüm springen. Heute endet sein Bühnenleben, wie er es seit zehn Jahren kennt. Er geht mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Nochmal sind alle gekommen. Seine Frau, seine Eltern, seine Schwiegereltern, sein Bruder mit seiner Schwägerin, seine beste Freundin mit ihrem Mann, Freunde aus der Branche, sein Agent und bester Freund. Und der Mann, ohne den er diese Entscheidung niemals getroffen hätte. Sein Therapeut.
Sie wollen anschließend alle zusammen essen, anstossen. Aber erstmal liegt vor ihm eben diese letzte Vorstellung. Auf die er sich freut. Er hat diese Rolle lieben gelernt, die Partie unglaublich gerne verkörpert. Es ist ein wundervoller Prozeß gewesen, den Charakter für die deutsche Erstaufführung zu entwickeln. Echte künstlerische Arbeit. Manchmal beschleicht ihn das Gefühl, dass er, wenn er immer so arbeiten dürfte, diesen Beruf jetzt nicht an den Nägel hängen würde.
Es klopft und das vertraute Gesicht von Alex Sander taucht in der Tür auf. Jan lächelt, bittet den Freund herein. Sie brauchen jetzt keine Worte, haben in den letzten Tagen viel gesprochen. Wortlos umarmen sie sich, dann begleitet Alex den Freund nach unten zur Hinterbühne. Dann entschwindet er, um sich die Derniere vom Saal aus anzusehen. Nikolai Ruklov nimmt Jan in Empfang. Ein Techniker kontrolliert den Sender, ein Dresser das Kostüm, dann bleiben die beiden Männer alleine zurück. Auch hier braucht es keine Worte, auch zwischen ihnen ist alles gesagt. Sollte Jan seine Meinung ändern, Nikolai Ruklov wird da sein.
Die restliche Truppe stößt dazu. Es herrscht eine fast ehrfürchtige Stimmung. Jan muss schwer schlucken, als die Kollegen ihm eine besondere Letzte wünschen.
Dann wird es still im Saal und dunkel auf der Bühne. Das Orchester setzt zur Ouvertüre an und dann beginnt sie, die letzte Vorstellung.