Start: 19:55
Ende: 20:46
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Die Tür am Ende des Ganges ist grau. Das irritiert mich.
Immer wieder zieht sie ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Nicht nur wegen der Farbe, die mir so unpassend vorkommt.
Im regelmäßigen Abständen öffnet sie sich.
Alle 20 Minuten geht jemand hinein, danach wieder hinaus.
Dazwischen fünf Minuten Pause.
Ich warte seit zwei Stunden, dass mein Name aufgerufen wird.
Habe immer wieder etwas auszufüllen, doch das mindert meine Aufregung kaum.
Ist es normal, dass mir übel ist?
Die Hände ganz schwitzig?
Dieser Tag ist so unendlich wichtig für mich.
Ich weiß gar nicht so genau, was mich darin erwartet.
Aber ich bin hier, weil ich eingeladen wurde.
Das wiederum bedeutet, dass der erste Teil der Prüfung nicht so schlecht gewesen sein kann.
Dabei hatte ich wirklich ein mieses Gefühl.
Hier angenommen zu werden, ist definitiv kein Spaziergang.
Aber ich wünsche es mir so sehr.
Ich blicke auf und beobachte die Kandidatin, die soeben den Raum verlässt. An ihrer Miene kann ich nicht ablesen, wie es ihr ergangen ist.
Sie wird von einer Dame im mittleren Alter durch den Wartebereich begleitet. Es ist streng untersagt, dass sie uns etwas erzählt.
Von da drinnen. Von den Menschen, die da auf uns warten. Von der Atmosphäre, die unter ihnen herrscht. Oder gar vom Ablauf.
Die gleiche Dame kommt zurück und bleibt direkt vor mir stehen.
Nur ein kurzes Nicken signalisiert mir, dass nun ich an der Reihe bin.
Mir rutscht das Herz in die Hose.
Beim Aufstehen merke ich, dass meine Knie zittern.
Unter ihrem bestimmten Blick sammle ich meine Tasche auf und folge ihr dann zur Tür.
Dieses Grau.
Es ist ein sehr dunkles Grau, beinahe schwer.
Aber lange kann ich nicht darüber nachdenken, denn sie drückt die Klinke herunter.
Mein Kopf ist eine Sekunde lang völlig leer. Wir stehen in einem Zwischenraum und ich erhalte ein knappes Briefing.
Sie wird vorgehen.
Mich vorstellen.
Dabei haben diejenigen, die gleich über mich urteilen, bereits alles vor sich liegen.
Meinen Steckbrief.
Ein Foto.
Die Benotung aus der ersten Prüfung.
Dann wird sie gehen und hier auf mich warten.
Sie lächelt nicht ein einziges Mal und ich habe ganz kurz das Verlangen, einfach umzudrehen und zu gehen.
Doch sie gibt mir dann noch einen Ratschlag.
Egal, wie es läuft, Sie haben genau 18 Minuten Zeit. Diese gehören Ihnen. Wer vorher abbricht, ist automatisch raus. Wer nicht fertig wird, hat Pech.
Mit klopfendem Herzen folge ich ihr.
Diese Tür hier ist mit rotem Samt überzogen.
Dahinter ein schwerer Vorhang und dann stehen wir mitten auf einer Bühne. Mit langen Schritten schreitet sie auf eine weiße Markierung zu und ich begreife, dass ich hier stehen bleiben soll.
Während Sie meinen Namen nennt, blinzle ich ins Gegenlicht.
Ich erschrecke fürchterlich.
An einem langen Tisch sitzen zehn Personen.
Zwanzig Augen sind fest auf mich gerichtet.
Irgendwie fühle ich mich nackt, entblößt, mir wird kalt.
Zehn?
Warum so viele?
Und keine lächelt, alle nicken nur.
Als würden sie sich erstmal versichern, dass sie auch die richtigen Unterlagen vor sich haben.
Die Stöckelschuhe eilen davon und ich bin mit dieser Meute alleine.
Sofort ist mir klar, dass ich mich an so eine Situation niemals werde gewöhnen können. Es ist zwar keine Fleischbeschau, aber es kommt dem doch irgendwie nahe.
Einer der beiden Herren in der Mitte nickt und spricht mich an.
Verwundert antworte ich auf seine Fragen, die sich auf meinen Lebenslauf beziehen. Ich höre das Kratzen von zehn Kugelschreibern.
Die nächste Frage kommt von links außen. Einer Frau um die 60. Wieder wird meine Antwort eifrig mit notiert. Die nächste Frage bezieht sich auf meine Antwort, sie kommt wieder von vorn. Der gleiche Mann wie eben? Ich kann sie nicht auseinander halten.
Aber ich merke, dass ich mich ein wenig entspanne.
Trotzdem kommt es mir endlos vor, dabei sind nicht mal fünf Minuten vergangen.
Als nächstes soll ich einen Passus meiner Klausur erläutern. Herrje, haben die wirklich alle diese Arbeiten gelesen? Zumindest kann ich mich gut an meine Ausführungen erinnern und diese ganz offenbar zufrieden stellend erklären. Als ich fertig bin, wird am Tisch kurz leise gesprochen, ich kann kein Wort verstehen. Und dank des Lichts kann ich auch nicht wirklich erkennen, ob sie zufrieden sind. Aber sie sind sich einig, denn der Herr in der Mitte übernimmt dann wieder das Wort.
Es ist dann ein komisches Gefühl.
Ich stehe auf diesem weißen Kreuz, vor mir der lange Tisch und irgendwo an der Seite muss der Pianist sitzen. Sehen kann ich das Klavier nicht. Meine Noten musste ich bereits beim Eintreffen abgeben und jetzt zählt er mich leise ein.
Nochmal atme ich durch.
In den Gesichtern vor mir sind alle Gefühlsregungen vertreten.
Interesse.
Langeweile.
Aufmerksamkeit.
Noch ehe ich den ersten Ton singe, schließe ich die Augen. Ich bin mir sicher, dass ich es vergeige, wenn ich weiterhin stumpf zu diesem Tisch sehen muss. Ich will gar nicht mitbekommen, wie sie reagieren. Weder bei einem falschen Ton, noch bei einer gelungenen Passage.
Ausgerechnet jetzt wird mein Mund ganz trocken.
Ich weiß nicht, was ich mit meinen Händen machen soll.
Verdammt, darüber habe ich doch noch nie nachgedacht.
Nach den ersten Tönen verlagere ich mein Gewicht, fühle instinktiv, dass ich einen sicheren Stand brauche. Die Musik trägt mich und der Pianist versteht sein Handwerk. Sein Tempo ist gut, wir finden eine angenehme Harmonie. In den nächsten Minuten vergesse ich, wo ich bin.
Ich vergesse die Menschen, die mich aufs genauste beobachten.
Ich vergesse, um was es heute geht.
Ich vergesse zu denken.
Stattdessen kann ich die Töne fließen lassen, sie schweben auf der Melodie.
Nach dem zögerlichen Einstieg werde ich kraftvoller, runder im Gesang.
Über eine schwierige Stelle komme ich fehlerfrei, was mir beinahe Flügel verleiht. Gegen Ende traue ich mich gar, ein wenig zu variieren.
Ich bin fertig, halte die Augen noch geschlossen und fühle der Musik noch nach. Nun ist auch das Klavier stumm.
Mitten in diesem Schweigen, das ich nicht deuten kann, öffne ich meine Augen. Erst sehe ich gar nichts. Wie von einem Schleier bedeckt liegt alles vor mir. Es ist mir unangenehm, aber ich muss mir über die Augen wischen. Dabei bete ich, dass sie die Tränen nicht gesehen haben.
Haben sie aber, wie ich eine Minute später weiß.
Tatsächlich möchte eine der Frauen wissen, warum dieses Stück viele Menschen berührt und ob ich das anhand der Partitur erklären kann. Überrascht räuspere ich mich. Stammle irgendetwas von Zwischennoten und Tonartwechseln. Von der roten Linie der führenden Melodie. Von der Kunst, die Stimme als zusätzliche Harmonie zu sehen.
Der Hauptredner richtet sich im Stuhl auf, dann sieht er seine Kollegen nacheinander an. Schweigend sehe ich zu, wie sie werten. Am Liebsten würde ich in irgendein Mauseloch kriechen.
Alle klappen die Mappen zu. Nun lächelt die Dame von links außen und alle bis auf den einen lehnen sich entspannt zurück.
"Herzlichen Glückwunsch. Es freut uns sehr, dass wir Ihnen einen Platz an unserem Konservatorium für das kommende Semester anbieten können. Eine ausführliche Bewertung besprechen wir in der kommenden Woche. Frau Mayerling begleitet Sie direkt zur Anmeldung, dort wartet noch ein bisschen Papierkram auf Sie."
Ich höre schon die Schuhe klackern. Exakt 18 Minuten sind vergangen, seitdem ich sie zuletzt gehört haben.
18 Minuten die mein Leben verändern werden.
Jetzt gefällt mir die graue Tür, als ich sie hinter mir lasse.