Start: 18:05 Uhr
Ende: 19:01 Uhr
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Schon seit Stunden regnete es. Der Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es in der nächsten Zeit auch nicht besser werden würden. Dunkle, dichte Wolken hingen am Himmel, wie nasse Bindfäden prasselte das Wasser herunter. Auf den Straßen standen große Pfützen, die auseinanderspritzten, wenn ein Auto hindurchfuhr. Es nützte also nichts. Sie war sowieso viel zu spät dran und bei den Verhältnissen draußen würde sie zu Fuß zudem länger brauchen. Sie betrachtete sich im Spiegel. Die guten Schuhe konnte sie keinesfalls tragen, also verstaute sie diese in ihrem Rucksack und schlüpfte in die Gummistiefel. Das sah zur guten Businesshose recht albern aus. Doch auch hier blieb ihr keine andere Wahl. Wie gut, dass sie sich vor kurzem erst eine neue Regenjacke gekauft hatte, denn ein Schirm allein erschien ihr sinnlos. Wie ärgerlich, dass zu der Nervosität vor ihrem Vorstellungsgespräch jetzt auch noch Stress kam. Seufzend zog Annika die Wohnungstür ins Schloss.
Nur etwa fünf Kilometer entfernt betrachtete auch Daniel kritisch den Regen. Wie konnte es nur so schütten und das seit Stunden? Zu allem Überfluss hatte das Radio die aktuellen Verkehrshinweise gesendet und darüber informiert, dass in der Stadt einige Unterführungen schon vollgelaufen waren. Zwei davon lagen auf seinem Weg, was ihn einen Umweg kostete. Schlecht gelaunt stieg er in seinen Dienstwagen. Schon auf den ersten hundert Metern kam der Scheibenwischer kaum nach. Zudem konnte Daniel kaum mehr als Schritt fahren und zog einen bemerkenswerten Wassernebel hinter sich her. Hoch konzentriert umfuhr er die Sperrungen und kämpfte sich auf den Innenstadtring. Immer wieder kämpfte er mit Aqua Planing. Das Wasser stand längst auf der Straße, die Gullis fingen bei weitem nicht alles auf. Nur noch etwa 300 Meter, dann hätte er sein Ziel erreicht. Wobei ihm der Gedanke, in einer Tiefgarage zu parken, gar nicht behagte. Vielleicht sollte er den Wagen einfach doch an der Straße abstellen, sofern etwas frei war. Mit einem Seitenblick vergewisserte er sich, dass sein Regenschirm im Fußraum hinter ihm lag. In diesem Moment bremste das Fahrzeug vor ihm deutlich ab.
Annika hielt sich so weit wie möglich vom Straßenrand entfernt. Das fehlte ihr gerade noch, dass sie auch noch von den Autos nass gespritzt wurde. Dabei hatte der Schirm kaum verhindern können, dass ihre Hose feucht geworden war. Mühsam schluckte sie die Tränen herunter. Unbedingt hatte sie einen guten ersten Eindruck hinterlassen wollen und nun das. Ihre Friseur hatte sich fast aufgelöst, das Make-up war verlaufen und sie fror erbärmlich. Vielleicht hatte sie ja Glück und konnte sich im Trockenen noch ein wenig zurecht machen und aufwärmen. Noch hatte sie ein wenig Puffer. Nur noch eine Ampel, danach abbiegen und dann war sie schon da. Sie hielt etwas Abstand und drückte die Taste. Ein blauer Golf rutschte mehr an ihr vorbei als dass er fuhr. Als es grün wurde, wartete sie einen Moment, dann eilte sie auf die andere Straßenseite und bog sofort rechts in die kleinere Gasse ab. Dann ging auf einmal alles furchtbar schnell, Annika blieb kaum Zeit zu reagieren. Ein ihr entgegenkommender Kombi, der eindeutig zu schnell war, bremste hektisch ab, verlor die Kontrolle und drehte sich. Der hinterherfahrende SUV wollte offenbar ausweichen, geriet in eine Pfütze und schoss direkt auf sie zu.
Mühsam versuchte Daniel zum Stillstand zu kommen. Er sah die Frau in ihrem gelben Regenmantel und den ebenso gelben Gummistiefel, ihr vor Schreck geweitetes Gesicht und riss das Lenkrad herum. Der Audi machte einen Satz auf den Bürgersteig, verfehlte die Frau um Haaresbreite und blieb quer stehen. Daniels Herz raste, fest hatten sich seine Hände an das Lenkrad geklammert, welches er nun langsam los ließ. Noch immer stand die Frau an Ort und Stelle und starrte ihn an. Vermutlich stand sie unter Schock. Den Regen ignorierend stieg Daniel aus. Der Kombi hatte gewendet, der Fahrer sah einfach an ihm vorbei und fuhr einfach weiter. Kopfschüttelnd trat Daniel auf die Frau zu.
"Ist alles in Ordnung bei Ihnen?", fragte er. Wortlos drehte sie sich um und ließ ihn einfach stehen. Verdattert sah Daniel ihr nach, dann ging er zurück zu seinem Wagen. Auf den ersten Blick konnte er keinen Schaden ausmachen. Langsam lenkte er ihn daher vom Bürgersteig und in die nächste Parkbucht. Keinen Meter weiter wollte er fahren. Die letzten Meter legte er im Laufschritt zurück und versuchte sich zu fangen.
Anstatt sich an der Anmeldung zu melden, war Annika einfach in das WC im Erdgeschoss des Bürogebäudes gelaufen. Dort hatte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und vor ihrem geistigen Augen immer wieder gesehen, wie knapp der Audi an ihr vorbeigeschrammt war. Ihr war klar, dass sie vermutlich erst später am Tag begreifen würde, dass diese Geschichte auch ganz anders hätte ausgehen können. Sie würde nach diesem Gespräch heim gehen, sich ins Bett legen und einfach nur weinen. Am liebsten würde sie das jetzt schon tun. Stattdessen versuchte sie an Frisur und Make-up zu retten, was zu retten war, wechselte in die guten Schuhe und brachte die nasse Jacke und Stiefel zur Garderobe im Empfangsbereich. Eine Assistentin begleitete sie zu einem Besprechungsraum und beruhigte sie ob der Verspätung.
"Bei dem Wetter vollkommen verständlich. Der Herr Schneider ist auch gerade erst angekommen. Ich bringe ihn schonmal einen Kaffee oder Tee, ganz wie Sie mögen."
Daniel atmete durch, ehe er die Tür öffnete. Nun durfte er nicht an den Beinaheunfall denken, jetzt war Professionalität gefragt. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen, als sich die Kandidatin für die neue Stelle erhob und ihm die Hand reichte.
Da stand sie, die Frau, die er beinahe überfahren hätte. Sie hatte seine Hand los gelassen und war blass geworden. Schnell rückte er ihr einen Stuhl zu recht.
"Das war haarscharf", meinte sie. Daniel nickte und nahm ebenfalls Platz. Er musterte sie aufmerksam, aber sie schien sich gefangen zu haben.
"Lassen Sie uns das hier einfach hinter uns bringen", schlug sie vor.
"Ich habe eine bessere Idee. Wir beide trinken jetzt einen Kaffee und das Gespräch holen wir die Tage nach. Was halten Sie davon?"
Gespannt sah er sie an, sie wirkte überrascht.
Aber sie willigte ein.
Eine Woche später stellte Daniel Annika ein. Nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil sie ihn in dem Gespräch absolut überzeugt hatte.
Annika konnte kaum glauben, dass sie diese zweite Chance nicht nur bekommen, sondern auch genutzt hatte. Um ein Haar hätte ihr Leben schließlich an dem Tag auch vorbei sein können.
Daniel ließ den Audi seitdem bei starkem Regen lieber stehen.