Start: 18:00 Uhr
Ende: 19:00 Uhr
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Vor Aufregung kribbelte es bis in seine Haarspitzen.
Nachdenklich betrachtete er die schlichte Tür.
212
Ein kleines Hotel, auf dem Land, im Nirgendwo.
Zum wiederholten Male hob er die Hand um zu klopfen, ließ sie wieder sinken. Würde sich diese Tür öffnen, gab es vermutlich kein Zurück mehr.
Und doch wollte er nichts mehr als das.
Wann hatte das alles eigentlich angefangen?
Wirklich erst vor ein paar Wochen, nach jener furchtbaren Nacht?
Oder doch schon vor vielen Monaten, ohne dass er es verstanden gehabt hatte? Es nicht hatte verstehen, weil er es nicht hatte wahrhaben wollen?
Erst hatte er sich eingeredet, dass es nur aus dem Kummer, der gemeinsamen Sorge entstanden war. Hatte sich selbst belogen und sich richtig mies gefühlt. In jedweder Hinsicht. Wann begann eigentlich ein Betrug und war das nicht alles völlig falsch? Verboten? Eine Grenzüberschreitung, die fatale Folgen haben würde?
Er seufzte leise. Starrte die Tür erneut an.
212 - nur wenn du magst
Eine unverbindliche Einladung?
Redete er sich dies nicht nur ein?
War ihm nicht klar, dass es mehr war? Längst? Seit Wochen?
Hatten sie die Grenze nicht bereits überschritten?
Aber was war denn bisher überhaupt passiert?
Gespräche.
Ein Verstehen.
Mit dem er niemals gerechnet hätte.
Eine Nähe, die er gar nicht gewollt hatte.
Die ihn aber anzog, als wäre auf der anderen Seite ein Magnet.
Begang er gerade den größten Fehler seines Lebens?
Oder war sein Leben bis hierhin ein Fehler?
Nein, das wäre ungerecht.
Alles war gut gewesen, so hatte er jedenfalls gedacht.
Dabei hatten sich Kleinigkeiten schon lange gezeigt. Das war seine Schuld, so dachte er jedenfalls. So wie er gedacht hatte, dass es wieder werden würde. Doch nun stand er hier und ihm war sehr bewusst, dass es nie wieder werden konnte.
Kein Geräusch war von der anderen Seite zu hören. Totenstille. Nur sein Herz schien so laut zu klopfen, dass er sich schon wunderte, dass sich nicht deswegen schon die Tür öffnete. Oder würde sie jetzt einen Rückzieher machen? Aus Angst vor der eigenen Courage?
212 - für eine Nacht
War das nicht auch eine Selbstlüge? War ihnen beiden nicht klar, dass es dabei vermutlich nicht bleiben würde?
Unterschwellig hatten sich Gefühle aufgebaut. Gefühle, die er nicht mehr leugnen konnte. Und sie vermutlich ebenso wenig. Sonst hätte sie doch niemals diesen Vorschlag gemacht, oder doch?
Wenn er sich nicht bald entschied, würde er es nie erfahren. Was aber, wenn er einfach wieder ging? Leise, zügig und sich eine Ausrede einfallen ließ? Ob er es bereuen würde? Würde er aber nicht auch bereuen, wenn er nun hinein ging?
Wieder hob er eine Hand, zögerte und dann klopfte er so zaghaft, wie er nur konnte. Vielleicht hörte sie es nicht. Dann könnte er guten Gewissens behaupten, dass er da gewesen war. Herrje, was ein Unsinn. Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken, denn die Tür zu Zimmer 212 schwang lautlos auf.
Nur ein Spalt, niemand war zu sehen. Aber er konnte ihr Parfum riechen, das ihr so gut stand. Den Geruch setzte er mit Trost gleich, mit Halt. Seit eben jenen Tagen.
Vorsichtig schob er die Tür weiter auf, trat ein und zog sie hinter sich zu, lehnte sich dagegen.
Sie stand zwei Meter entfernt, blickte ihn unsicher an.
"Du bist gekommen", flüsterte sie.
Ihr Blick beinhaltete Scheu, nur eine verhaltene Freude. Erst dann lächelte sie und sah ihm in die Augen.
Sie deutete zur Sitzecke, bat ihn, sich zu setzen, schenkte einen Sekt ein. Mit einem untergeschlagenem Bein setzte sie sich an den Rand am anderen Ende des kleinen Sofas.
"Und nun?", fragte er.
Dabei schluckte er schwer. Der Reiz, den sie auf ihn hatte, machte sich spürbar bemerkbar. Hinter der Fassade der toughen Geschäftsfrau steckte eine sachte Persönlichkeit. Klug war sie, aufgeräumt in ihren Gedanken, verständnisvoll und dazu wunderschön. Stundenlang hatten sie sich unterhalten in den Nächten, in denen keiner von ihnen hatte schlafen können. Über Handy, oft per Videochat. Er meist aus seinem Büro heraus, sie von ihrer Couch.
Er wusste, dass sie gerne Thriller las, Artischockenherzen liebte, für Mangoeis auch kilometerweit lief und zickig wurde, wenn sie nicht dreimal in der Woche zum Training konnte. Dazu liebte sie Gedichte, Architektur und Bergsteigen. Letzteres hatte ihn erst belustigt, weil es so gar nicht zu ihren immer manikürten Fingern und den unvermeidlichen Pumps passen wollte. Diese trug sie auch jetzt, dazu ein schlichtes, schwarzes Kleid, die dunklen Haare hochgesteckt. Ihr Alltagslook, der immer aufwendig wirkte, es aber gar nicht war. So war sie eben. Nach eigener Aussage ging sie niemals ungeschminkt aus dem Haus, trug Jogginghosen nur beim Sport und besaß nur drei paar flache Schuhe.
Sie nippte nur, stellte das Sektglas ab und atmete durch.
"Ich habe das nicht gewollt", sagte sie leise. "Auch nicht darauf angelegt. Aber ich kann es auch nicht mehr verschweigen."
Sein Mund wurde trocken, schnell nahm er einen Schluck.
"Wir müssen das nicht", flüsterte er.
"Nein, aber ich würde es gerne", antwortete sie. Ihre schwarzen Augen ruhten auf ihm. "Ich habe mich schon vor langer Zeit in dich verliebt. Es versteckt, unterdrückt und versucht, es los zu werden. So Eine wollte ich nicht sein, weißt du? Monatelang habe ich versucht, darüber weg zu kommen; vermieden, dir über den Weg zu laufen. Was schwierig genug war. Einem anderen die Chance gegeben und das von ganzem Herzen. Doch es funktioniert nicht. Das ist mir in den letzten Wochen klar geworden. Ich habe versucht, dir eine Freundin zu sein, so wie du ein guter Freund für mich warst. Ich möchte mehr, verstehst du? Mehr als nur Freunde sein." Sie hob den Kopf.
"Und wenn ich dir nichts versprechen kann?", fragte er tonlos. Dabei zog sich sein Herz fürchterlich zusammen. Denn an und für sich würde er ihr liebend gerne alles versprechen. Das Leben, die Zukunft. Ihr die Welt zu Füßen legen, Sterne vom Himmel holen, mit ihr zusammen sein, bis ans Ende der Welt. Diese Erkenntnis brach Tsunami mäßig über ihn herein. In dieser Sekunde erkannte er, dass er sich längst entschieden hatte, dass er nur zu feige gewesen war.
"Vergiss es", murmelte er und nahm vorsichtig ihre Hand. Wie warm diese war, wie sehr sie zitterte. Es musste Überwindung gekostet haben, ihm all das zu sagen, auch wenn er es längst geahnt hatte. Sich aus dem Weg gehen war zudem so gut wie unmöglich. Sie hatten ein gemeinsames Patenkind, ihre besten Freunde waren verheiratet, sie die jeweiligen Trauzeugen gewesen.
Sie rutschte näher, ihre Nähe brachte ihn um den Verstand.
Ein Nicken, ein stummes Einverständnis, dann trafen ihre Lippen erstmals aufeinander. Ein Kuss, der sofort die Fesseln der Moral sprengte, alle Überlegungen zunichte machte. Sie schmeckte so gut, ihre Lippen so herrlich weich. Er fuhr mit einer Hand in ihren Nacken, löste die Klammer. Beide rangen sie nach Atem, als sie sich voneinander lösten. Ihre Wangen waren vor Erregung gerötet, ihr Blick glasig.
"Wir können das nicht tun", meinte er sanft. "Noch nicht", schob er schnell nach. "Wir sollten erst ein paar Dinge klären, meinst du nicht?" Vor allem wollte er die Reihenfolge einhalten, das schwere, letzte, unvermeidbare Gespräch führen. Es kriselte schon länger. Ob er aber ohne sie den Mut gefunden hätte, es auch zu beenden? Oder hätte er einfach weitergemacht?
Nickend schmiegte sie sich an ihn. Auch sie musste etwas beenden, was längst keine Beziehung mehr war.
"Ein bisschen kuscheln und küssen, können wir dabei bleiben?", fragte sie mit einem Augenaufschlag. Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. War es nicht sowieso schon egal?
"Alex?", fragte sie schläfrig nach ein paar Minuten in seinen Armen.
"Hm", gab er zurück.
"Bekommen wir das morgen hin, ohne uns schon zu verraten?", wollte sie wissen. Der Umzug. Fast hätte er ihn vergessen. Ganz selbstverständlich wollten sie morgen helfen.
"Schaffen wir; die beiden haben andere Sorgen", versprach er und beugte sich erneut zu ihr, um sie zu küssen.