Start: 19:00 Uhr
Ende: 20:01 Uhr (sorry)
Disclaimer: die Geschichte spielt Ende der 70er/ Anfang der 80er, als es noch ein wenig anders war, als heute. Die Überlebenschancen der Frühchen, selbst vor der 30. Woche, haben sich so stark verbessert.
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Gerlinde Neumann arbeitete seit 5 Jahren auf der Neonatologie der Universitätsklinik. Nach ihrer Ausbildung hatte sie sich gezielt hierfür weitergebildet und sie liebte ihren Beruf. Gemeinsam mit einem festen Team unter der Leitung zweier Oberärzte betreute sie alle kritischen Fälle des Landkreises. Oft wurden sie als Unterstützung hinzugezogen und der Ruf des Klinikums als Spezialklinik eilte ihnen voraus. Seit den 70er Jahren hatte sich dies gefestigt und ermöglicht, dass sie mittlerweile zwanzig moderne Inkubatoren-Plätze unterhalten und flexibel zur Verfügung stellen konnte. Nicht jedes Kind schaffte es, aber die Quote lag nun, zehn Jahre nach dem gezielten Ausbau deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Chefarzt Prof. Dr. Ulrich Kaiser galt auch international als Koryphäe und stand in engem Austausch mit den führenden Spezialisten und Kliniken in den Staaten und Europa. Gerlinde arbeitete gerne mit dem ruhigen Arzt zusammen und auch heute hatten sie gemeinsam Dienst.
Auf der Station hatten sie derzeit sechs Frühchen, davon nur eines in einem kritischen Zustand. Im Grunde lag zumindest theoretisch ein ruhiger Arbeitstag vor Gerlinde und ihren sieben Kolleginnen. Neben dem Chefarzt war der jüngere der beiden Oberärzte im Haus, Dr. Fleiner. Gemeinsam hatten sie gerade die Visite am Vormittag abgeschlossen, als Gerlinde das Schwesternzimmer betrat. Monika, die dienstälteste Kollegin, nahm auf dem Flur ein Elternpaar im Empfang, das nach ihrem Baby sehen wollte. Oft waren die Mütter längst entlassen worden und kamen oft für mehrere Stunden vorbei. In Gerlindes Visionen der Zukunft sah sie Familienzimmer vor sich, in der die Eltern noch viel öfter und ungestörter bei ihren Kindern sein konnten. Aktuelle Studien belegten, dass dies die Entwicklung der Kleinen deutlich beschleunigte. Noch aber waren dies Träume, die aber auch ihrem Chef nicht unbekannt waren.
Gerlinde wollte sich gerade an die aktuellen Medikamentenliste machen, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende war, wie oft, eine kleine Klinik aus dem Landkreis, die sich nach einem freien Platz erkundigte. Gerlinde hörte sofort heraus, dass es eilte. Ihre Vollmachten reichten aus, um den Platz nach einer kurzen Schilderung der Lage zu vergeben und einen speziellen RTW auf die Reise zu schicken. Schnelles Handeln war gefragt. Nicht immer reichte die Zeit, dass der besonders ausgestattete Transporter noch rechtzeitig die örtliche Geburtsklinik erreichte.
Die Erleichterung am anderen Ende war spürbar. Wie üblich gab es in den ländlichen Regionen nur wenige vorbereitete Klinik. Diese war recht klein und besaß lediglich einen Brutkasten. Und jener war belegt, so dass man die Universitätsklinik um Hilfe bat. Außerdem war man auf Frühgeburten vor der 35. Woche dort nur unzulänglich vorbereitet. Gerlinde legte auf, wollte Dr. Fleiner anpiepsen, als zufällig der Chefarzt in ihr Blickfeld geriet.
"Professor Kaiser!", rief sie über der Gang. "Wir bekommen mit dem RTW in der nächsten Stunde eine SSW 32 nach Notkaiserschnitt", informierte sie ihn. Jedes Mal war da eine kleine Furcht in ihr, ob das kleine Geschöpft die Fahrt überstehen würde. Doch die ruhige Art ihres Chefs nahm ihr diese auch heute. Routiniert trafen sie die Vorbereitungen und eilten nach unten, nachdem der Rettungssanitäter die Ankunft über Funk angemeldet hatte. Auch dann zählte jede Sekunde.
Beim Aussteigen drückte der Kollege ihr eine Akte in die Hand und lieferte knapp die Fakten.
Ein Junge, vermutlich Anfang der 32. Schwangerschaftswoche, nicht intubiert, aber beatmet, mit Sättigungsabfall direkt nach der Geburt und während der Fahrt, die Mutter nach Notkaiserschnitt mit Blutverlust nicht transportfähig, nur knapp 1.700 gr Geburtsgewicht. Alles in allem ein kritischer Zustand, aber nicht akut lebensbedrohlich. Was sich änderte, als sie die Station erreichten. Prof. Dr. Kaiser zögerte nicht und handelte wie immer schnell und entschlossen. Auch wenn es nach der 30. Woche eher selten vorkam, diesen Jungen intubierte er schlussendlich, um ihn zu stabilisieren. Gerlinde versuchte wie so oft, ihre Emotionen hinten an zu stellen, arbeitete sachlich an der Seite des Arztes und dachte sich dennoch, dass so ein Stress zu Beginn des Lebens eine furchtbare Erfahrung sein musste.
Nach einer Stunde war der Kleine so stabil, dass sie ihn in Ruhe umlagern konnte. Routiniert kümmerte sie sich um die Kabel, die Temperatur und die Magensonde. Da die Muttermilch nicht in der Nähe war, blieb ihnen erstmal nichts anderes übrig. Während sie die Medikation einstellte, strich sie ihm immer wieder beruhigen über die winzige Wange. Nur mit der Fingerspitze des kleinen Fingers und ganz zart. Er war so winzig und so fürchterlich allein. Ohne seine Mama, ohne Papa und ohne den so wichtigen ersten Körperkontakt direkt hier her gebracht worden. Sie blieb noch einen Moment sitzen, behielt den Monitor im Auge und streichelte ihn sacht. Die nächsten Stunden waren entscheidend, auch wenn die Überlebenschancen in den letzten Jahren deutlich gestiegen waren.
Anschließend nahm sich Gerlinde Zeit, um die Klinik zu informieren.
"Der Junge ist stabil und seine Chancen stehen gut", meinte sie lächelnd.
"Vielen Dank. Wir geben das gleich an die Eltern weiter, die sich große Sorgen machen", gab ihre Gesprächspartnerin zurück.
"Wann kann die Mutter verlegt werden?", fragte Gerlinde.
"Wir denken, dass wir sie noch ein paar Tage hier behalten", gab die Kollegin zurück. Kopfschüttelnd legte Gerlinde danach auf. Auch so eine Vision von ihr und dem Chef war, dass die Kliniken die Mütter schneller zu ihnen schickten. Vielleicht, irgendwann, müsste man dies ja nicht mehr diskutieren.
In den nächsten Stunden behielt Gerlinde den Neuankömmling im Auge. Auch über Nacht blieb alles ruhig. Immer wieder setzte sie sich zu ihm, sprach mit dem mutterseelenallein kämpfenden Jungen und hoffte, dass er so etwas Geborgenheit fand. So weit es eben möglich war, mit all den Geräuschen, Untersuchungen und Lichtern. Noch ehe dann Gerlinde ihre Schicht beendete, wurde die Intubation zurückgenommen und über die Nase beatmet.
"Du tapferer kleiner Kerl", murmelte sie zur Verabschiedung. In zwei Tagen würde sie wieder kommen und sich weiter kümmern. Dringend sollten sie erfragen, ob der Kleine schon einen Namen hatte. Außerdem fehlte eine Telefonnummer der Eltern, bisher bestand der Kontakt nur über das andere Krankenhaus. Vielleicht sollte sie nochmal versuchen, die Mutter verlegen zu lassen?
Sie wollte gerade zur Umkleide, als ihr ein großer Mann im Gang auffiel, der sich suchend um sah. Er sah müde aus und sah sie fragend an, als sie auf ihn zu kam.
"Können Sie mir helfen? ich suche meinen Sohn. Lehmann ist mein Name, Paul Lehmann", sagte er mit einem ängstlichen Unterton in der Stimme. Aufmunternd nickte sie.
"Sie sind der Vater!", sagte Gerlinde und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Schon auf dem kurzen Weg beantwortete sie die Fragen des jungen Mannes und brachte ihn zu seinem Kind. Verschämt wischte er sich nach einem kurzen Moment über die Augen.
"Gott, was bin ich erleichtert", seufzte er.
"Setzen Sie sich ruhig eine Weile zu ihm, Durch die Luke können sie ihn auch berühren, seine Wange oder die Hand streicheln. Das wird ihm gut tun."
Gerührt sah sie zu, wie der Vater Kontakt aufnahm und leise mit dem Säugling sprach. Natürlich hatte er noch mehr fragen. Gerlinde verwies ihn an den Chefarzt und versprach, diesen direkt vorbeizuschicken.
"Wie geht es seiner Mutter?", erkundigte sie sich.
"Sie ist nervlich völlig am Ende und muss erst körperlich zu Kräften kommen. Aber ich bringe sie so bald als möglich zu unserem Sohn", versicherte er.
"Gut, das ist sehr gut", meinte Gerlinde erleichtert. Ihr war klar, dass dieses schnelle Auseinanderreißen für alle Beteiligten ein großer Schock gewesen war. Sie war schon an der Tür, als ihr noch etwas einfiel.
"Wie heißt er denn überhaupt?"
Paul Lehmann lächelte.
"Jan", sagte er.
"Jan. Also ein Geschenk Gottes. Ein schöner Name", stellte sie fest.
"Das ist er, glauben Sie mir. Und wir sind dankbar, dass sich hier alle gut um ihn kümmern." Er sah ihr offen ins Gesicht.
"Das tun wir. Kein schöner und kein leichter Start ins Leben, aber er ist ein Kämpfer. Er schafft das!"
Gerlinde behielt recht. Eine Woche später konnte Jans Mutter ihn erstmals besuchen, ein paar Tage später bereits im Arm halten. Nach weiteren drei Wochen nahm er zu und konnte die Körpertemperatur halten und dann stand einer Entlassung nichts mehr im Wege. Gerlinde musste zugeben, dass ihr der Junge sehr ans Herz gewachsen war. Sie freute sich für die kleine Familie. Mit etwas Glück würde er keine Spätfolgen davon tragen und sich altersgemäß entwickeln. Ein guter Ausgang, der nicht allen Frühchen vergönnt war. Während Jans Aufenthalt hatten sie ein kleines Mädchen verloren, dass nur wenige Tage vor ihm zur Welt gekommen war. Gerlinde wusste, dass sie das aushalten musste, das war ihr Beruf. Trotzdem konnte sie das Leiden einiger Eltern auch in den Jahren danach nicht einfach beiseite schieben. Das leid ihrer eigenen Eltern ebenso wenig, die vor so vielen Jahren einen Sohn zu früh verloren hatten. Es war Gerlindes Motor. Als sie zehn Jahre später die ersten Familienzimmer eröffneten und ihre Sterblichkeitsrate bei den Kindern nach der 30. Woche auf unter 1% gesenkt hatten, war sie stolz, Teil des Ganzen zu sein.