Start: 19:35 Uhr
Ende: 20:35 Uhr
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Überall im Dorf waren die Fenster der Häuser und die Gärten festlich geschmückt. Auf dem Marktplatz und vor der Kirche hatten die Bauern der Region kleine Stände errichtet. Die Gaben der Felder wurden angeboten, darunter vor allem Kürbisse und Äpfel, aber auch Blumen und Kräuter. Am Brunnen standen fünf Erntepuppen, die aus den letzten Ähren geflochten worden waren. Im Inneren der Kirche selbst war der Altar farbenfroh gestaltet worden, der Gottesdienst fand wie stets aber erst nach Einbruch der Dunkelheit statt.
Kleine Grüppchen standen zusammen, zogen gemeinsam weiter, flanierten vorbei an den Buden, nahmen frische Säfte oder eine der Speisen zu sich. Das Erntedankfest folgte seinem eigenen Ritual, einer langen Tradition, ländlich geprägt. Hier, wo noch jeder jeden kannte, man sich der christlichen Geschichte und der der Heimat sehr bewusst war. Und nirgendwo fühlte sich das junge Paar wohler, als eben genau hier. Inmitten der zahlreichen Freunde und der Familie. Wobei es streng genommen sein Heimatdorf war, sie war etwa fünf Kilometer weiter aufgewachsen. Trotzdem waren sie sich zu Kindertagen nur selten über den Weg gelaufen. Er hatte die Volksschule hier am Dorfplatz besucht, sie jene in der nächsten Stadt. Dort war er später auf das Gymnasium gewechselt, sie auf die Mittelschule. Außerdem war er zwei Jahre älter, was bis in die Teeangerzeit ein zufälliges über den Weg laufen beinahe ausgeschlossen hatte. Als er sein Studium in der Kreisstadt begann, hatte sie ihre Lehre aufgenommen. Dafür war sie anfangs täglich mit dem Fahrrad zwanzig Kilometer in eine andere kleinere Stadt gefahren.
Vor ihrer ersten wirklichen Begegnung hatten sie sich vom Sehen gekannt. Einer seiner Brüder war ihr Klassenkamerad auf der Handelsschule gewesen, die sie während der Lehrzeit besucht hatte. Ihre Schwester wiederum hatte sie dann auf dieses Tanzfest mitgenommen, auf dem sie sich sofort ihn ihn verguckt hatte. Dies war nun etwas mehr als vier Jahre her. Schnell hatten sie sich verlobt, ein Jahr später geheiratet und nun trug sie ihr erstes Kind unter dem Herzen. Vor wenigen Monaten war ihr Vater gestorben. Ein wortkarger Mann, der schwer gezeichnet aus dem Krieg zurück gekehrt war. Deutlich älter als ihre Mutter, die mit den Eltern ihres Mannes gerade am Suppenstand wartete. Das Erntedankfest aber, das hatte Leopold Haferkamp geschätzt, für seine Verhältnisse gar geliebt. Er war kein großer Kirchgänger gewesen, den Glauben an Gott hatte er im Schützengraben verloren. Doch einmal im Jahr hatte er mit andächtiger Miene den Gottesdienst besucht.
Untergehakt am starken Arm des großen, sanften Mannes, den sie ihren Ehemann nennen durfte, spazierte sie vorbei an Chrysanthemen, Astern und den letzten Sonnenblumen. Es war ein schöner und langer Sommer gewesen. Bis weit in den Oktober hinein war es warm gewesen. In ihren Augen beinahe schon zu warm. Oft hatte sie abends die geschwollenen Füße in eiskaltem Wasser gebadet und sie eingewickelt hoch gelegt. Nur noch etwa sechs Wochen, dann sollte das Baby kommen. Wenn man von den Wassereinlagerungen und Rückenschmerzen ab sah, eine traumhafte Schwangerschaft. Ein Wunschkind. Sie war schon jetzt voller Liebe für das Ungeborene. Beide wünschten sie sich eine große Familie. Er hatte sechs Geschwister, sie nur ihre Schwester. Da waren schon kleine Nichten und Neffen auf seiner Seite, alle kamen sie regelmäßig am Sonntag bei seinen Eltern zusammen. So wünschte sie es sich auch. Ein volles Haus voller Kinderlachen und liebevolle Großeltern.
Ob ihr Vater ein guter Opa geworden wäre? Ob ihn vielleicht ein Enkelkind herzlicher gestimmt hätte? Darüber dachte sie noch nach, als sie langsam das Kirchenportal hinauf stiegen. Von oben sahen die kleinen Markstände wie ein bunter, zusammen gewürfelter Haufen aus. Dazu die Gemütlichkeit der zahlreichen Kerzen und kleinen Feuerstellen. Wie es die Tradition der Bauern vor sah, sollten gegen Mitternacht die Erntepuppen verbrannt werden. Dies galt als Opfergabe. Der Legende nach garantierte dies ein gutes Frühjahr und ebnete den Weg zu einem guten Ertrag auf den Feldern.
Sie konnte sich erinnern, dass sie als kleines Mädchen mit sieben oder acht Jahren erstmals hatte dabei zusehen dürfen. Der Vater hatte ihre Hand gehalten und ihr alles erklärt. In knappen Sätzen, kein Wort zu viel. Und er hatte ein wenig geschimpft, als sie erschrocken war. Nun war er nicht mehr da. Würde nie sein erstes Enkelkind kennen lernen, nie mehr ihre Hand halten. Zuletzt hatte er das an ihrer Hochzeit getan, ehe sie ihrem Mann das Ja-Wort gegeben hatte. Nein, Leopold Haferkamp hatte auch an diesem Zeit keine großen Gefühle gezeigt. Eben sowenig, als er die Krebsdiagnose erhalten hatte. Fortgeschritten. Gestreut, nur wenige Wochen waren ihm geblieben.
Fast gleichzeitig hatte sie ihre Schwangerschaft bemerkt. War hin und her gerissen gewesen, zwischen der Freude und der Trauer. Heute aber, mitten während der Predigt des beliebten Dorfpfarrers, holten sie die Tränen ein. Genau erklären warum, konnte sie nicht. Doch es war vermutlich das erste Mal, dass sie ihren Vater so intensiv beweinte. Sie sah den Altar, dessen besonderen Schmuck und konnte nicht fassen, dass ihr Vater nicht mehr bei ihnen war.
Während sie so weinte, nahm ihr Mann ihre Hand. Still drückte er sie, hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken und ließ sie trauern. Es erstaunte sie immer wieder auf Neue, wie feinfühlig er war, wie gut er sie ohne Worte verstand. Sein stummer Trost trocknete ihre Tränen. Beruhigend strich sie sich über ihren Bauch. Manchmal lagen Leben und Tod so grausam nah beieinander.
Eine Stunde später gingen sie Hand in Hand durch das Dorf zu ihrer Wohnung, ließen die Buden und die feiernden Menschen hinter sich.
"Ihm hätte es heute gefallen", meinte er. Sie nickte.
"Vor allem die geschnitzten Kürbisse und vermutlich auch der selbst Gebrannte deines Bruders", gab sie lächelnd zurück. Dessen Birnenschnaps war ein Familienrezept, hatte bei Leopold großen Anklang gefunden. Er lachte tief und grinst verschwörerisch.
"Mit Sicherheit stößt der heute Nacht noch auf deinen Vater an."
Lächelnd hielt sie vor dem Haus an. Es bedeutete ihr viel, dass auch seine Familie sich heute an ihren Vater erinnerte. Auch das machte es erträglicher. Gerade an Tagen wie heute.