Start: 19:00 Uhr
Ende: 19:57 Uhr
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An und für sich hatte dieser wichtige Tag gut begonnen. Um vor dem entscheidenden Termin noch genügend Zeit zu haben die Unterlagen ein letztes Mal zu prüfen, hatte Martin seinen Wecker früher gestellt. Das Aufstehen fiel ihm zudem selten schwer. Auch jetzt im Herbst nicht. Er mochte die Dunkelheit und Stille, ehe der Tag startete. Wie immer war er leise aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlüpft. Neles Tag begann später als der seine. In der Regel schlief sie noch, wenn er das Haus verließ. Auch aus diesem Grund frühstückte er nach wie vor gemeinsam mit seinen Eltern. Über all die Jahre war es ein festes Ritual geworden, so wie er auch fast jeden Mittag pünktlich bei ihnen am Tisch saß. Dafür gehörten die Abende Nele.
Mit Mantel, Sakko und Krawatte über dem Arm legte Martin die wenigen Schritte von der Einliegerwohnung zum Eingang des Haupthauses zurück. Der Schlüssel steckte außen, wie üblich. Sein Vater hatte es sich angewöhnt, dass er morgens kurz mit dem Hund ging, die Brötchen und Zeitung herein holte, und Martin anschließend den Schlüssel an seinen Platz hing. Heute hing noch der Pfeifengeruch vor der Tür. Schmunzelnd trat er ein, zog die Tür zu und platzierte das Schlüsselbund am Haken. Er folgte dem Gluckern der Filterkaffeemaschine und deren Duft in die Küche.
Überrascht hob Paul Lehmann den Kopf, vor ihm lag die Zeitung. Schon seit Martin denken konnte, las sein Vater den ersten Teil vor dem Frühstück, die Regionalseiten. Erst danach kam das Weltgeschehen an die Reihe und das Rätsel hob er sich für den späten Nachmittag auf. Schon als Jugendlicher hatte Martin von dieser Routine profitiert und den Sportteil noch vor der Schule verschlingen können.
"Du bist früh", brummte Paul, während Martin seine Sache im alten Lehnsessel deponierte. Dies war der angestammte Platz des Großvaters, Pauls Vater, gewesen, ehe auch der viel zu früh verstorben war.
"Wir haben schon um 9 die Leute von Social Gamma im Haus", erklärte Martin. Mehr musste er nicht sagen, sein Vater war noch immer auf dem Laufenden, obwohl er sich offiziell aus der Geschäftsleitung zurückgezogen hatte. Bis vor einigen Monaten war er zumindest an den Vormittagen noch mit ins Büro gekommen, heute war er Martins wertvollster externer Berater.
"Deswegen so schick", lächelte Paul wissend. Nickend nahm sich Martin eine Tasse aus dem Küchenschrank. Meist trug er Hemd und Jeans, heute aber Anzug. Krawatten hasste er gar, aber manchmal war es nötig.
"Mama noch nicht unten?", erkundigte er sich.
Kopfschüttelnd faltete Paul die Zeitung zusammen.
"Sie müsste aber gleich kommen. Ihr seid gut vorbereitet?"
Wieder nickte Martin. Er und seine rechte Hand hatten in den letzten Wochen hart an dem Projekt gearbeitet. Sie kannten alle Fakten, hatten die offenen Punkte zielgerichtet vorbereitet. Im Grunde sollte nichts mehr schief gehen.
"Wir gehen fest davon aus, dass alles unterschriftsreif ist."
Mit der Tasse in der Hand setzte er sich seinem Vater gegenüber auf die Eckbank. Sein Stammplatz. Beherzt griff er zu einem Brötchen, als auch seine Mutter die Küche betrat. Im Hintergrund lief das Radio, sie plauderten über verschiedene Themen, ein Frühstück wie hunderte Male zuvor. Martins Blick ging irgendwann zur Uhr. Wenn er in Ruhe alles durchgehen wollte, musste er los. Er fühlte sich einfach wohler, wenn er alles selbst geprüft hatte. Stefan Konrad war sein bester Mitarbeiter, sehr gewissenhaft und zuverlässig, dennoch war er nun mal der Verantwortliche.
"Dein Schnürsenkel ist offen", meinte seine Mutter. Martin blieb im Türrahmen stehen und sah an sich herunter. Tatsächlich. Im Flur stellte er den Fuß auf einem der Hocker ab und wollte das Malheur beseitigen. Der Schnürsenkel riss, kaum, dass er daran zog. Fluchend richtete sich Martin auf.
"Verdammt!". Suchend öffnete er die Schublade an der Garderobe und wühlte darin herum. Man merkte, dass sein Vater aus dem Berufsleben ausgeschieden war, es gab keinen passenden Ersatz. Zumindest nicht hier, denn Paul zauberte einige Minuten später doch noch welche hervor.
Genervt sah Martin auf seine Uhr am Handgelenk. Nur noch die Krawatte, dann konnte er los. Vermutlich lag es an ihm, denn er brauchte fünf Anläufe, bis sie richtig saß. Noch mehr wertvolle Zeit, die verstrich. Gut, dass er einen Puffer eingebaut hatte!
"Viel Erfolg", meinte Paul, der ihm nach draußen gefolgt war. Auf einen Pfiff hin kam Fred angelaufen und Martin konnten den Mischling gerade so davon abhalten, an ihm hoch zu springen. Das würde jetzt noch fehlen, dass die dreckigen Pfoten des Tieres alles verdreckte. Wohlerzogen setzte sich Fred zu seinem Herrchen, auf die Befehle Pauls hörte er immer.
"Danke, Paps", erwiderte Martin und wollte mit der Fernbedienung sein Auto entriegeln.
Stirnrunzelnd drückte er erneut auf den Knopf.
Nichts tat sich.
Irritiert schob Martin den Schlüssel ins Schloss, der Wagen sprang auf. Das war es dann aber auch. Die Zündung gab keinen Mucks von sich. Fragend trat Paul an das Auto und klopfte an die Fensterscheibe. Nicht mal die ließ sich herunterfahren!
"Verdammt nochmal", entfuhr es Martin, als er aus stieg.
"Batterie?", fragte Paul.
Vermutlich. Aber warum? Das Auto war gerade ein Jahr alt, da sollte so etwas nicht passieren. Und schon überhaupt nicht heute.
"Kann ich den Audi nehmen?", fragte Martin. Im gleichen Moment machte er eine Feststellung, bei der er beinahe erneut geflucht hätte.
"Grundsätzlich schon", antwortete Paul achselzuckend.
Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch stapfte Martin auf das Nebengebäude zu. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie so oft hatte sein Bruder am späten Abend als letzter geparkt. Und zwar so dämlich, mal wieder, dass Pauls Audi blockiert war.
Ihm war nun herzlich egal, dass vermutlich noch alle schliefen, er klingelte Sturm. Es dauerte, bis seine Schwägerin im Bademantel die Tür aufriss.
"Ist was passiert?", fragte sie überrascht, im Haus hörte Martin das Weinen der kleinen Tochter.
"Dein werter Gatte war mal wieder nicht in der Lage, an andere zu denken. Er soll seine Karre wegfahren. Sofort! Ich muss dringend los", blaffte er sie an.
Sie zog eine Augenbraue hoch.
"Er war erst um 2 zu Hause und schläft noch", entgegnete sie.
"Mir egal", knurrte Martin.
"Ruhig", hörte er Pauls Stimme hinter sich. "Gib mir den Schlüssel, ich mach das", meinte er versöhnlich zu seiner Schwiegertochter. Diese verschwand kurz und tauchte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder auf. Martin konnte den missbilligenden Blick seines Vaters erkennen.
"Wenn jemand den anderen Stellplatz mal räumen würde, dann müsste Jan sich nicht irgendwo hin quetschen", meinte sie spitz und reichte Paul den ersehnten Autoschlüssel.
"Da hat sie nicht unrecht", kommentierte Paul, deutete auf die beiden Motorräder und wandte sich den Autos zu. "Hol du dir den Autoschlüssel, damit du los kommst", rief er seinem Ältesten dann zu. Mit verschränkten Armen stand Isabelle weiterhin in der Tür, bis Martin vom Hof gefahren war.
Aller Widrigkeiten zum Trotz lief der Termin perfekt. Die Unterschrift prangte am Nachmittag unter dem Vertrag und Martin konnte sich auf der Rückfahrt entspannen. Mit einem schlechten Gewissen trat er zuerst den Gang nach Canossa an. Entschuldigen musste er sich und diesmal war es mehr als angebracht. Offenbar schien Isabelle schon nicht mehr sauer zu sein.
"Um die Mopeds kümmere ich mich heute noch", versprach er ihr.
"Es war übrigens ein Marder", brachte sich Paul ein.
"So ein Saboteur", lachte Martin und sah nochmals entschuldigend zu Isabelle.
"Dass du mal aus der Haut fährst", schmunzelte sie. Martin zuckte die Schultern. Es war um viel Geld gegangen, vielleicht der Auftrag seines Lebens. Aber er ließ sich ungern in die Karten schauen. Deswegen lehnte er sich nur zurück.
"Vielleicht sollten wir doch noch diese Garagen bauen", überlegte er.