Start: 18:15
Ende: 19:15
Eigentlich bin ich hier oben gelandet, weil meine Frau mich gebeten hat, eine Kiste mit Deko vom Speicher zu holen. Eigentlich eine Sache von fünf Minuten. Immer vorausgesetzt, die Kiste steht noch da, wo ich sie vor Monaten verstaut habe. Eigentlich bringt die Ordnung hier niemand durcheinander, also hätte sie eigentlich im linken Schrank im mittleren Fach stehen sollen. Neben der Kiste mit den ganzen Kabeln. Eigentlich.
Mittlerweile habe ich etwas anderes gefunden und sitze seit einer halben Stunde auf dem Boden, im Schein einer viel zu dunklen Glühbirne. Diese vermaledeite Kiste stand natürlich nicht mehr mittig links. Irgendwer hat die Kabelkiste eine Etage tiefer gerückt und dort, wo die Weihnachtskugeln und so weiter auf mich warten sollten, stehen drei kleinere Kartons. In die ich nicht hatte hineinschauen wollen. Eigentlich. Denn ich bin ja auf der Suche nach der Deko.
Erst habe ich geflucht und den ganzen Schrank abgesucht. Dann aber siegte die Neugier.
Nun stehen die offenen Kartons vor mir, alle Deckel habe ich angehoben. Eigentlich – ja eigentlich. Ich bin mir so sicher gewesen, dass ich all den Kram schon vor Jahren entsorgt habe. Doch irgendwie ist er hier oben gelandet, irgendwer hat sie innerhalb der letzten Monate an diese Stelle geräumt. Und wo finde ich jetzt das, wofür ich heraufgeschickt wurde?
Im Moment ist mir das beinahe gleich. Denn das, was da vor mir liegt, beschäftigt mich mehr, als ich zugeben möchte.
Mein Herz zieht sich ein wenig zusammen, als ich vorsichtig mit einem Zeigefinger über eines der Ledereinbände fahre. Es sind sechs wunderschöne Bücher. Diese Art von Tagebüchern, die junge Mädchen gerne nutzen. Sie wirken antik, sind es aber nicht. Diese hier wurden vor etwas mehr als 20 Jahren gekauft und mit einer schwungvollen, leicht verspielten Handschrift eng beschrieben. Ich weiß, dass sie sechs Lebensjahre umfassen. Denn ich kenne sie gut. Sie beginnen mit einem Todesfall und enden mit einem weiteren.
Und dazwischen tobt sich eine Pubertät aus. Gemischt mit Trauer, Leidenschaft und Melancholie. Sie wandelt sich in ein junges Erwachsenenleben. Töne von Lebensfreude kommen dazu, Neugier auf die Zukunft und dann eine Wut auf das Schicksal.
Die Seiten sind dünn, knistern wie Pergament. Manche sind mit Zeichnungen gefüttert oder mit Fotos, hier und da eilig hingekritzelten Noten. Sie sind Zeuge eines unvollendeten Lebens, voller Tragik und kleinen Glücksmomenten. Das aktuelle Tagebuch ist ein ständiger Begleiter gewesen, dort stehen die geheimsten Gedanken. Vor einigen Jahren sind sie bei mir gelandet und ich habe damals nur im letzten Buch gelesen. Es sind ganz besondere Aufzeichnungen, die einen großen Wert für mich haben. Weil sie mich viel gelehrt haben über die Verfasserin – über mich – über uns – über das Ende.
Die Eintragungen enden trotz aller Trauer und verständlicher Angst versöhnt. Etwas, was mich keineswegs nur einfach beeindruckt hat. Es hat so viel mehr in mir ausgelöst. Einen Prozess losgetreten, der schlussendlich für mich wichtig war. Und während ich jetzt hier so sitze, umgeben von Staub und fahlem Licht, stelle ich mit Verwunderung fest, dass es mich nicht traurig macht. Weder die so vertraute Handschrift, die Schnappschüsse oder die kleinen Textsegmente, die ich lese. Fast das Gegenteil ist der Fall. Ich kann über die ein oder andere Anekdote schmunzeln. Hier und da schüttle ich den Kopf, wenn ich eine Passage entdecke, in der mir unser Tun unwirklich erscheint. Denn ab einem Zeitpunkt taucht mein Name regelmäßig auf, beinahe in jeder Eintragung. Bis er schleichend wieder weniger wird und schließlich, wie eine Randnotiz erscheint. Aber auch das täuscht. Heute weiß ich, dass ich das nicht für sie war. Aber unsere gemeinsame Zeit war abgelaufen und sie hat das früher erkannt als ich. Trotz allem hat sie gewollt, dass ich irgendwann ihr Vermächtnis, ihre verborgenen Überlegungen und Wünsche an das Leben erhalte. In den letzten kurzen Notizen spricht sie mich immer wieder konkret an. Beim ersten Lesen damals hat es mir beinahe das Herz herausgerissen. Vor allem auch deshalb, weil ich ihr Unrecht getan habe. Mein Vorwurf, dass sie mich ausschließen wollte auf ihrem letzten, so unvermeidbaren Weg, ist der Erkenntnis gewichen, dass sie mich einfach nur schützen wollte.
Diese Tagebücher und die Fotos darin sind so gut wie alles, was mir von ihr geblieben ist. Von meiner großen Jugendliebe, die einem ganz eigenen Rhythmus gefolgt ist. Wie ein Lied, dessen Melodie dich gleichzeitig traurig und glücklich macht. Das Herzklopfen und Gänsehaut in einem beschert, dessen Text die Noten in deine Seele trägt. Das du auch Jahrzehnte später vor dich hin summst und dessen Komposition du nie vergisst.
Auf einem der reichlich vergilbten Fotos lächeln wir beide in die Kamera, ich habe meinen Arm um sie gelegt. Sie, das hübsche, dunkelhaarige Mädchen und ich, der schlaksige Junge mit den traurigen Augen. Sie ist jetzt mein Schutzengel und ich der Kerl, der endlich nach den Kugeln suchen muss. Denn mein Leben ist weitergegangen, nach einer Welle des Schmerzes, die mich eine ganze Weile unter Wasser gedrückt hat. Noch immer muss ich hier und da aufpassen, dass ich nicht untergehe, aber mein Kopf bleibt immer öfter und länger oben. Auch, weil da unten jemand auf mich wartet – und auf die Deko-Kiste. Wegen der ich eigentlich hier oben bin.
Und doch hat der kurze Ausflug in die Vergangenheit auch etwas Gutes. Denn es steht außer Frage, dass es dieses zauberhafte Wesen war, die ich heute meine Frau nennen darf, die diesen kleinen Schatz für mich aufbewahrt hat. Lächelnd staple ich die Tagebücher wieder zurück in die Kartons und schiebe diese zurück an ihren Platz. In die Mitte, im linken Schrank. Eigentlich ist es gar nicht schlimm, wenn die vermeintliche Ordnung etwas durcheinandergerät. Manchmal kann man dabei etwas entdecken. Und sei es die Erkenntnis, dass manche Dinge immer zum Leben gehören und deswegen die Welt nicht stehen bleibt. Auch wenn dir ein Schicksalsschlag im ersten Moment den Atem nimmt, das Leben geht weiter. Anna schrieb als allerletzten Satz:
Zeit ist kostbar – lebe jeden Moment und erfreue dich daran, dass du dein Leben hast.
Vielleicht ist das der wertvollste Rat, der in diesen Büchern steckt.
Ich finde die gesuchte Kiste auf der gegenüberliegenden Seite. Wirklich genau gegenüber. Eigentlich hätte ich sie sehen müssen, als ich nach oben gekommen bin.
Eigentlich.