Start: 18:40 Uhr
Ende: 19:37 Uhr
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Gedankenverloren hielt sie die kleine Porzellanfigur in ihren Händen. Der kleine Schwan war filigran, wunderschön und elegant. Ein kleines Erinnerungsstück nur, aber unglaublich wertvoll. Nicht im materiellen Sinn, oh nein. Vielmehr waren es die Bilder, die sie jetzt vor sich sehen konnte, die so unbezahlbar waren. Und die ihr nie mehr jemanden nehmen konnte. Denn sie trug sie im Herzen. Für immer. Und würden auch immer dort bleiben.
Wie gut sie sich an den Moment erinnern konnte. An den ganzen Tag gar. Selbst die Sonne an jenem Tag im Frühling konnte sie auf der Haut spüren. Der Geruch nach einer frisch gemähten Weidewiese drängte sich in ihren Sinn. Das Geläut der Kuhglocken, die atemberaubende Schönheit der Bergwelt. Ganz spontan war sie an jenem Tag auf die Idee gekommen, diese Wanderung machen zu wollen. Noch früh am Morgen, als sich die Sonne gerade aus den Wolken gekämpft hatte.
Auf den schattigen Abschnitten des Weges war es gar noch kühl gewesen. Und einsam. Nur sie und er, niemand sonst, hatten sich schon auf den Weg gemacht. Auf dem ersten anstrengenden Anstieg war ihnen keine Menschenseele begegnet. Am Wegesrand hatten bunte Wildblumen geblüht und hier und da war selbst der Tau noch zu sehen gewesen. Immer wieder waren sie stehen geblieben. Nicht nur um durchzuschnaufen, sondern auch, um das Panorama wirken zu lassen. Der Lohn für den anspruchsvollen Weg war ein frisch gemahlener Kaffee bei bester Aussicht auf der Hütte gewesen, die auf halber Strecke zum Gipfel lag. Sie hatten die Wirtsleute mit ihrer frühen Ankunft so überrascht, dass es noch kein Frühstück gegeben hatte. Dafür aber freie Platzwahl und ganz viel Ruhe.
Danach war es flacher geworden, aber es war stetig bergauf gegangen. Immer wieder konnten sie nun beobachten, wie die ersten Bergbahnen voller Menschen nach oben fuhren. Darunter viele Gleitschirmflieger, die sie kurz vor dem Ziel auch bereits in der Luft entdecken konnten. Sie hatten es sich nicht nehmen lassen, denen später eine Weile beim Starten zu zusehen. Nachdem sie bis zum Gipfelkreuz gewandert waren, versteht sich. An der Bergstation hatten sie endlich gefrühstückt und die Gegend ausreichend bewundert. Die Ortschaften sahen von oben aus wie in einer kleinen Modelllandschaft. Dazwischen die Farbtupfer der blauen Seen, der grünen Wiesen und alles umrandet von den Bergen. Stolz thronten die beiden Schlösser auf ihren Plateaus und vielleicht waren es die beeindruckendsten Bilder, als sie sich auf dem Abstieg von oben den Türmchen Neuschwansteins näherten.
Hier hatte sie gelernt, dass nicht das Erklimmen des Berges der schwerste Teil des Weges gewesen war. Hinab brauchte es sehr viel mehr Aufmerksamkeit und Konzentration. Hier kamen ihnen nun auch andere Wanderer entgegen, die alle stets freundlich grüßten. An einer Stelle wäre sie am liebsten zurück gegangen und hätte doch die Talfahrt der Bergbahn genutzt. Es galt, vier Klettersteige nach unten zu überwinden, was sie noch nie getan hatte. Ja, sie hatte Angst gehabt und sie hätten sich beinahe gestritten. Weil er es kinderleicht fand und ihre Aufregung nicht hatte verstehen können. Schlussendlich aber sie sich überwunden und es mit seiner Hilfe gemeistert. Aber das Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen.
Auch danach war es kein einfacher Weg. Er wurde immer schmaler, führte über Geröll, Stock und Stein. Doch immer wieder bot er spektakuläre Ansichten. Einmal bogen sie um eine Kurve und das Märchenschloss lag beinahe direkt unter ihnen. Und mit jedem Schritt kamen sie diesem dann näher. Als sie glaubte, nicht mehr zu können, erreichten sie einen der schönsten Aussichtspunkte. In einer Linie Neuschwanstein, dahinter der Alpsee und wenn man genau hinsah, Hohenschwangau. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel und dank der Bewegung war ihnen beiden nicht nur einfach warm geworden. Eine letzte Herausforderung war die Marienbrücke.
Nicht, weil sie hoch war. Und auch nicht, weil sie wackelte. Und auch nicht, weil die Pöllatschlucht so tief war. Es war die Menschenmenge, die ihr zu schaffen machte. Von ihrer Seite aus ging es noch, aber ab der Mitte mussten sie sich durch die Touristen, vornehmlich aus Asien, regelrecht hindurchzwängen. Nur kurz hatten sie den Anblick von hier genossen. Es war auf einmal auch viel zu laut. Zielsicher hatte er sie durch den Strom der Wartenden gelotst und dann einen Weg eingeschlagen, der sie wieder weg von jenen führten, die unterwegs zum Schloss waren. Nur wenige Minuten weiter war es wieder stiller. Auf den nächsten Metern erklärte er, dass über diesen Weg nur wenige Touristen den Aufstieg zum Schloss angingen. Die meisten wählten die Fahrstraße der Pferdekutschen. Dafür kamen sie nun fast direkt am Alpsee heraus.
Sie war stolz auf sich gewesen. Es war definitiv keine leichte Tour gewesen und sie war an ihre körperlichen Grenzen gestoßen. Im Ort war noch mehr los als oben an der Brücke. Auch deswegen durchquerten sie ihn zügig, vorbei an den Souvenirshops und Gaststätten. Vorbei am Museum der Bayerischen Könige, hin zum Ufer des Sees, an welchem die Asiaten die Enten und Schwäne anstarrten, als wären sie Weltwunder. Er hatte sie gebeten kurz zu warten und sie beobachtete kopfschüttelnd, wie zwei japanische Frauen sich mit einem der Schwäne anlegten. Offenbar hatten jene unterschätzt, wie gefährlich die Tiere werden konnten. Es kam, wie es kommen musste. Das stolze Tier schnappte zu und es setzte ein kleiner Tumult ein. In dem Trubel setzten sich der Schwan und sein Gefährte ins Wasser ab. Dafür tauchte ihr menschlicher Begleiter wieder auf und nahm sie an die Hand.
Sie bogen links auf den Uferweg ab und schon zweihundert Meter weiter waren sie wieder allein. Lachend hatte sie ihm von dem Zwischenfall erzählt und er zauberte zwei Flaschen dunkles, kühles Bier aus seinem Rucksack.
Versteckt, noch einige hundert Meter weiter, verbarg sich ein Strandbad und da hatte sie gewusst, warum sie ihre Badesachen hatte einpacken sollen. Was eine gute Idee! Das Wasser entpuppte sich als eiskalt, aber als perfekte Abkühlung nach dem langen Weg. Sie sonnten sich, saßen auf dem Badesteg und teilten sich den schönen Platz mit nur wenigen anderen Badegästen. Dafür aber bekamen sie tierische Gesellschaft. Das Schwanenpaar hatte offenbar zu viel von der Unruhe am anderen Ufer. Fast eine halbe Stunde sahen sie den beiden zu. Es war ein Traumtag, ohne Wenn und Aber.
Auf dem Rückweg dann, fast vor Ladenschluss, hatte er ihr den kleinen Schwan gekauft. In einem der Souvenirläden, die vorher von den Tagestouristen heimgesucht worden waren. Mit einem Blitzen in den Augen hatte er gemeint, dass er sie vielleicht immer an diesen Ausflug erinnern würde. An ihre Leistung, an die harmonischen Stunden und daran, dass auch Schwäne ein Leben lang zusammen blieben.
Jetzt, im Nachhinein, Jahre später, musste sie tatsächlich daran denken.
Wie schön es wäre, mal wieder in die Berge zu fahren. Ob sie den Weg noch einmal schaffen würde? Sie lachte leise und stellte das Schwänchen zurück zu den anderen Souvenirs. Vermutlich eher nicht, aber einen Teil vielleicht. Vielleicht aber würde sie sich lieber irgendwo ans Ufer setzen und die Schwäne beobachten. Ob dieses Paar noch dort lebte? Ob die Asiaten heute schlauer waren?
Schmunzelnd sah sie zum Fenster hinaus. Ein Leben lang. Das hatten auch sie sich mittlerweile versprochen. Und wenn sie ihm so zu sah, wie er gerade Holz hackte, dann war sie unglaublich glücklich. Sie hatten viele Erinnerungen geschaffen. Momente wie eben diese, sie sie verbanden. Die sie auch durch schwere Zeiten trugen. Manchmal brauchte es so ein Souvenir, damit man sich genau daran auch entsinnen konnte. Damit die Geschichten nicht verloren gingen. Und ist nicht die Erzählung die schönste, die mit den Worten beginnt: weißt du noch?