Start: 20:50 Uhr
Ende: 21:35 Uhr
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Deine Gedankenwelt bleibt mir fremd. Deine schwarzen Nebel, wie du sie nennst. Die Düsternis, die dich immer wieder umgibt. Die ich nicht nur spüren, sondern dir auch ansehen kann. Diese tiefe Traurigkeit, die sich nicht dauerhaft auflöst Deine Selbstzweifel, das dunkle Bild, das du von dir malst. So eindrücklich, dass auch ich dich nicht in bunt denken kann. Mir bleibt unverständlich, dass du das Glück, das Leben, welches dich begleitet, trotz allem, nicht greifen und in dir verankern kannst. Der Sturm in dir endet in Sackgassen, aufs Neue, immer wieder. Dein Kampf gegen all das, die kleinen Momente des Sieges, helle Augenblicke.
Dabei bist du mir nah. Ob ich möchte oder nicht. Du kamst in mein Leben, ungefragt. Und bist geblieben, oft genug gegen meinen Willen. Zumindest in der frühen Erinnerung. Heute weiß ich dich auf eine seltsame Art zu schätzen. Liebe dich, auch wenn das eine pure Herausforderung darstellt. Mich packt ab und an die Wut. Die Verzweiflung. Und die Wertschätzung. Ob ich ohne dich wüsste, dass dieses Grau in Menschenleben so existieren kann? Die Lektion, dass nach außen alles ganz wunderbar erscheinen mag, während im Inneren Dämonen um ein Vorrecht streiten, verdanke ich dir. Dein Mut ring mir Bewunderung ab. Gleichzeitig packt mich der Drang, dich zur Räson zu bringen. Wider besseren Wissens.
Du kannst nichts dafür. Auch diese Einsicht fand erst spät Eintritt in mein Leben. In meine Gedankenwelt. Weil ich gar so anders bin. Lebensbejahend. Optimistisch, jemand, der seinen Weg sehr bewusst voran geht. Aktiv Entscheidungen fällt. An jeder Weggabelung Für und Wider abwägt. Schwarz und Weiß sind mir zu einfach. Die Facetten dazwischen sind für mich Spannung, Antrieb, das Salz in der Suppe. Für dich offenbar nicht existent. Neugierig, offen, so werde ich gerne beschrieben. Verankert, in unserem Ort, in den sozialen Gefügen, ein lebendiger Kosmos.
Du bist verankert in den Schattierungen, die sich dir zeigen. Die du uns nicht erklärbar machen kannst. Weil es unvorstellbar bleibt. Dich ebenso wütend macht, wie mein eigenes Nichtbegreifen. In einer anderen Dimension. Geprägt von Hilflosigkeit, weil niemand deine Sprache spricht. Dich niemand vollumfänglich und beständig herausführen kann.
Was uns bleibt, ist ein Akzeptieren. Und das kommt so locker daher, harmlos. Klingt fast ein wenig beleidigend. Denn natürlich akzeptiere ich Menschen, die anders denken, anders leben, andere Weltanschauungen vertreten. Doch zu akzeptieren, dass du bist, wie du bist, das ist im Umfang größer. Umfassender. Weil es unumstößlich ist. Ich bin dir mit Verständnis begegnet. Mit offenem Herz und Visier. Eine Gefahr, die nicht nur ich unterschätz habe. Denn wenn du um dich trittst, dann tust du vor allem denjenigen weh, die sich aufrichtig bemühen. Die dir nah kommen, die den Schutzschild zum Bröckeln bringen. Kleine Risse in dein Mauerwerk reißen. Weil wir die nah sind, ob du möchtest oder nicht.
Was dir bleibt, ist für uns nicht zu fassen. Der Schmerz, die Dunkelheit, das gegen sich selbst gerichtete Ich. Heute weiß ich, dass du so gerne anders würdest wollen. Dir aber kein Instrument an die Hand gegeben wurde. Bestenfalls sind es Phasen, in denen du ein Trugbild in dir, vor dir her und aufrecht tragen kannst. Das ist zermürbend. Energiesaugend. Unmenschlich. Und zum Scheitern verurteilt. Jeder Rückstoß macht das Grau ein bisschen grauer, die Düsternis noch düster und deinen Atem kürzer.
Du bist mir fremd, deine Gedankenwelt bleibt mir ein Mysterium. Doch du bist mir nah, mein Bruder. Und das kann man nicht ausradieren. Egal, wie nutzlos manche Bemühung scheint. Egal, wie oft du eine Hand ausschlägst. Egal, wie sehr du in diesem Sumpft versinkt- Egal, wie oft du auftauchst und für kure Sequenzen dein anderes Ich sehen lässt. Dass da mehr ist, als ein gefrorenes Herz oder eine verstaubte Seele. Dein Lächeln, das kann Gletscher zum Schmelzen bringen. Deine Herzenswärme den härtesten Stein erweichen. Die Liebe, die du zu geben hast, würde aus der Hölle einen hellen Ort machen.
Dass dir das nicht vergönnt ist, erschüttert mich. Mich quält der Gedanke, welchen Anteil ich selbst trage. Du warst mir lästig, als du auf einmal da warst. Der kleine Bruder, der viel zu früh auf diese Erde drängte, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zog. Der aus so vielen Gründen nicht einfach ein Spielkamerad wurde. Der mich aber vergötterte und mein schlechtes Gewissen triggerte. Wir waren klein. Viel zu jung, um mit Absicht zu handeln. Aber wir wurden älter. Dein Anders sein war mir unangenehm. Dein Jähzorn aber, der war mir ein Dorn im Auge. Weil ich die rasende Toberei nicht ansatzweise nachvollziehen konnte. Du stürztest dich kopfüber in jede emotionale Grausamkeit. Als hätte ein Magnet deine Seele gelenkt. Und es hat so viele Jahre gebraucht, bis ich dich dahinter wieder entdecken konnte.
Deine Gedankenwelt wird mir fremd bleiben, auch wenn ich im Laufe der Zeit ein wenig gelernt habe die Sprache zu verstehen. Sprechen, das werde ich sie vermutlich niemals können. Aber ich kann dir nah bleiben. An dir dran, auch mal ungefragt. Weil du es nicht schaffst, zu fragen. Nicht schaffen kannst. Weil deine Welt nicht auf Säulen liegt, sondern in Sand. Und wie damals, als wir kleine Kinder waren, pappe ich ihn fest, damit er nicht nachgibt. Ich, und die Anderen, die nicht wegsehen oder weggehen. Denn wenn du lächelst, deine Liebe verteilst, uns mit offenen Armen empfängst, dann steht zwar nicht die Welt still, aber sie wird für einige Zeit ruhig. Sanft. Warm.
Und egal was kommt, du bleibst mein Bruder.