Start: 07:30 Uhr
Ende: 08:15 Uhr
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Nein, sie hatte keine Erfahrung mit exzessiven Partys. Klar, sie hatte gefeiert. Gerade an die Studentenpartys hatte sie gute Erinnerungen. Aber sie war meist gegangen, ehe es ausartete. Hatte die Stimmung schon immer früh wahrgenommen, wenn sie dabei war, zu kippen. Wenn aus einem lustigen Abend mit Musik und gemäßigtem Alkohol drohte, etwas anderes zu werden. Wenn anstatt Joints auf einmal Tütchen ausgepackt wurden oder sich vermehrt Schnaps auf den Tischen wiederfand. Sie und ihre beste Freundin waren sich einig gewesen, wann man eine Reißleine zog. Darüber hatte es nicht eine Diskussion gegeben. Sie waren gemeinsam gekommen und nicht ohne die andere gegangen. Und wenn eine der beiden nach Hause wollte, dann war dies eben so gewesen.
Im Nachhinein hatte sie oft genug erfahren, wie der Abend weitergegangen war. Nicht einmal hatten sie sich angesehen und das frühe Verschwinden bereut. Im Gegenteil. Auf Filmrisse, derbste Kater und eine Nase Kokain konnten sie gut verzichten. Ebenso auf Sex vor den Blicken der restlichen Feiernden. Zu ihrer eigenen Überraschung galten sie dennoch nicht als Spielverderber oder graue Mäuse. Beide waren sie immer beliebt gewesen. Auch heute, mit Anfang 30, trauerten sie keinen verpassten Chancen hinterher. Oder glaubten, etwas verpasst zu haben. Es war eine gute Zeit gewesen. Sie hatten studiert, gelacht, getanzt und gefeiert, sich verliebt und wieder entliebt, ihre Ziele erreicht und standen mit beiden Beinen im Leben.
Nein, sie hatte keinerlei Erfahrung, wie es nach einem Exzess in einer Wohnung aussehen konnte. Hatte vielleicht eine Ahnung davon gehabt, denn manche Bude hatte schon wüst genug ausgesehen, wenn sie von dort abgezogen war. Allein der Gedanke, die Spuren wieder beseitigen zu müssen, hatte sie ein wenig angewidert. Dabei würde sie nicht von sich behaupten, einen regelrechten Putzfimmel zu besitzen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die tagein tagaus jeden kleinsten Staubkorn sofort eliminierte. Es war etwas besser geworden, seitdem sie und ihr Bruder ausgezogen waren. Immerhin. Doch sie hätte schwören können, dass die Böden noch immer zweimal täglich gewischt wurden.
Durchaus mochte sie es aufgeräumt und sauber. Unordnung war ihr ein Gräuel. Es brach ja auch niemanden ein Zacken aus der Krone, das schmutzige Geschirr direkt in die Spülmaschine zu räumen. Gesetzt den Fall natürlich, dieser jemand hatte sie vorher auch mal ausgeräumt. Außerdem fand sie, dass Sessellehnen keine Wäscheablage waren oder sich Bücher nicht bis unter die Decke stapeln mussten. Gut, bei Kindern war es vollkommen in Ordnung, dass auch mal Spielzeug herum lag und es überall verstreut wurde.
Nein, sie hatte keine Ahnung. Und wüsste sie es nicht besser, dann hätte sie geglaubt, dass der Anblick, der sich ihr jetzt bot, nur von einer aus dem Ruder gelaufenen Party stammen konnte. Eben einem exzessiven Abend. Doch sie wusste es besser. Sah sich ungläubig um. In der kleinen Wohnung roch es muffig, als wäre nie gelüftet worden. Auf jeder einst freien Fläche im Wohnzimmer standen leere Flaschen. Auch Wasserflaschen, keine Frage, aber eben auch Alkohol. Vornehmlich Bier. Dann das ganze Papier. Zeitungen, Malpapier des Jungen, gestapelte Pizzakartons. Die, so wie es roch, nicht alle leer waren. Überall Kleidung, Medikamentenpackungen, Feuerzeuge und Zigarettenschachteln. Auf dem Sofa das ungemachte Bettzeug. Auf dem Balkon der überfüllte Aschenbecher und noch mehr leere Flaschen. In der Küche Essensreste, benutztes Geschirr, ein Geruch nach schimmeligen Kaffeepulver. Sie fand noch mehr Verpackungen von Fast-Food. Gekocht hatte hier ganz sicher schon länger niemand mehr. Im Flur lagen die Schuhe kreuz und quer, Jacken am Boden. Nur das kleinere Zimmer machte einen einigermaßen sauberen Eindruckt. Lediglich das Bettzeug schien zerwühlt.
Fassungslos nahm sie eine der Tablettenblister in die Hand, dann weitere. Eine ansehnliche Sammlung an Schmerz- und Beruhigungsmitteln, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Hektisch riss sie die Balkontür auf, um etwas frische Luft herein zu lassen. Es mochte keine Party gewesen sein, die hier gefeiert worden war, aber ganz bestimmt handelte es sich um einen Exzess ganz anderer Art. Hätte sie dies verhindern können? Müssen?
Immerhin hatte es vor einigen Wochen schon schlimm ausgesehen. Wobei es damals eher schmuddelig und unordentlich gewesen war. Zusammen hatten sie das Chaos beseitigt, den Vorratsschrank gefüllt und sie hatte den Kleinen mit zu sich genommen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie schon da erkannt, dass er nicht nur nicht in der Lage gewesen war, sich um seinen Sohn zu kümmern. Doch das Ausmaß jagte ihr nun kalte Schauer über den Rücken. Hatte sie seinen Versprechungen zu blauäugig geglaubt? Sich von seinen Worten am Telefon einlullen lassen? Wobei sie von Tag zu Tag weniger gesprochen hatten. Hätte sie es besser wissen müssen?
Hinter sich hörte sie Schritte, dann ein tiefes Seufzen.
"Es sieht schlimm aus", hörte sie ihn hinter sich sagen. Ihr blieb nur ein sprachloses Nicken. Und der Drang, das Chaos zu beseitigen.
Die Hand in ihrem Rücken gab ihr etwas Sicherheit, dennoch war ihr elend zumute. Betreten legte sie die Tabletten wieder zurück und drehte sich um. Vor ihr stand der Mann, der mindestens so erschüttert war wie sie selbst. Müde sah er aus, sie waren mitten in der Nacht aufgebrochen. Hatten fast drei Stunden Fahrt durch die Nacht hinter sich, stundenlanges Warten in der Notaufnahme. Dies hier war die Krönung der Ereignisse in den letzten Stunden.
"Was....", sie zögerte, traute es sich fast nicht auszusprechen. In seinem Gesicht sah sie, dass er aber das Gleiche dachte.
"Was, wenn es gar kein Unfall war?" vollendete er die Frage.
Bekümmert nickte sie. Und fürchtete sich vor der Antwort. Die ihnen aber nur ein Mensch geben konnte. Sein bester Freund und ihr Lebensgefährte. Der nach einem Autounfall in der Nacht in der Klinik war. Der viele Schutzengel gehabt hatte. Mit einer verstauchten Hand, einigen Prellungen und einem Schock davon gekommen war. Sekundenschlaf, so hatte es geheißen.
Nochmal sah sie sich um. Sie wollte es so gerne glauben.